Cryer's Cross
nach. Kendall blickt zu Jacián rüber.
»Fertig?«
Er nickt. Sie sprinten über den schlammigen Parkplatz zum Schulgebäude, während das schmutzige Wasser bei jedem Schritt in alle Richtungen spritzt.
»Hat man hier eigentlich schon mal was von Beton gehört?«, fragt Jacián mit einem angewiderten Blick auf seine Jeans. Sie stampfen mit den Füßen auf, bevor sie hineingehen. »Oder Asphalt. Das geht auch. Damit kann man Straßen machen und sogar Parkplätze.«
»Halt die Klappe.«
Er betritt das Klassenzimmer zuerst, bleibt dann aber stehen. »Wie ist das, musst du zuerst hineingehen?«
»Nein.« Sie mustert ihn misstrauisch, um zu sehen, ob er sich über sie lustig macht, doch er scheint es ernst zu meinen.
»Ich frage ja nur. Im Lager gab es einen Jungen, der immer Erster sein musste. Er hat alle damit genervt, weil er immer und überall geschrien hat: ›Ich zuerst, ich zuerst!‹ Alle waren gemein zu ihm, weil sie glaubten, er wolle sich nur immer überall vordrängeln. Sie haben es nicht verstanden.«
»Es ist für jeden anders.« Kendall schüttelt den Regen aus dem Haar und beginnt mit ihren Ritualen.
»He, Kendall?«, fragt Jacián einen Augenblick später.
»Ja?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, Nicos Pult wurde schon wieder verschoben.«
Kendalls Magen macht einen Sprung.
»Im Ernst?« Sie macht die Vorhänge fertig und geht zu Jacián hinüber. »Stimmt.«
Sie schaut sich um, um herauszufinden, mit welchem Tisch er vertauscht worden ist.
»Was zum Teufel …?«, flüstert sie. »Das ist doch nicht normal.«
Sie sieht Jacián an. »Du hältst es wahrscheinlich für blöd, dass ich mich daüber aufrege, aber so etwas ist noch nie passiert. Die Tische werden nur beim Großputz in den Sommerferien rausgebracht, sodass sie im Herbst alle durcheinander sind. Aber den Rest des Jahres werden sie nie bewegt. Nie.« Kendall lässt ihren Rucksack fallen und sucht den Raum hektisch nach Nicos Pult ab. Schließlich findet sie es in der Abteilung der Zehntklässler und zerrt es zurück an seinen Platz, während Jacián die anderen aus dem Weg schiebt.
Er berührt sie am Arm.
»Ich finde es nicht blöd, wenn du willst, dass Nicos Tisch neben deinem steht und darauf wartet, dass er zurückkommt.«
Kendall hält inne und schluckt schwer. Sie versucht zu entscheiden, ob sie immer noch glaubt, dass er zurückkommt.
Jacián nimmt seine Hand von ihrem Arm und geht aus dem Weg, damit sie den Tisch wieder an seinen angestammten Platz stellen kann. Dann hebt er den anderen hoch und bringt ihn schnell an den leeren Platz.
Sie sieht ihn immer noch an, obwohl er ihren Blick nicht erwidert.
»Danke«, sagt sie. Dummerweise treten ihr heiße Tränen in die Augen. »Das ist wahrscheinlich das Netteste, was mir irgendjemand in den ganzen letzten Wochen gesagt hat.«
»Na ja, das ist echt scheiße.«
Kendall reißt sich zusammen und runzelt dann die Stirn.
»Warum bist du so nett zu mir?« Sie setzt sich hin und dreht sich zur Seite, um ihn anzusehen. »Hm?«
Lange sieht er ihr in die Augen, und sie entdeckt etwas in seinem Blick: Einsamkeit … oder Mitleid … etwas unglaublich Menschliches, das sie noch nie zuvor bemerkt hat.
»Ich will nur Fußball spielen«, meint er leichthin. »Da habe ich mir gedacht, es wäre Zeit, dich mit meiner charismatischen Persönlichkeit zu bestechen.«
»Oh.« Kendalls Stimme klingt hohl, und sie fragt sich, wie enttäuscht sie darüber ist, dass er wahrscheinlich die Wahrheit gesagt hat. Sie hätte wissen sollen, dass er etwas Bestimmtes will.
Wegen des Regens stürmen die Schüler explosionsartig die Schule. Kendall wendet sich ab, legt den Kopf auf ihren Tisch und sieht Nicos an. Sie bemerkt nicht, wie Jacián auf seinem Platz zusammensackt, wie er die Augen schließt und den Kopf schüttelt, und sie hört auch nicht, wie er leise flucht.
Den ganzen Tag über regnet es immer wieder. Kendall reizt es, sich an Nicos Tisch zu setzen, aber das will sie nicht, wenn alle dabei sind. Wenn es regnet, bleiben die Schüler drinnen und essen an ihren Plätzen, also keine Chance.
Nach der Schule hat der Regen aufgehört, und Jacián und Kendall gehen vorsichtig zum Pick-up. Sie versuchen, nicht zu viel Matsch mit ins Innere zu tragen, aber das ist aussichtslos. Es ist kalt.
Jacián lässt den Motor an, legt den Arm über die Lehne des Beifahrersitzes und blickt zum Rückwärtsfahren über die Schulter. Seine Finger streifen Kendalls Haar. Sie rückt näher an ihre
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