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Cryer's Cross

Cryer's Cross

Titel: Cryer's Cross Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baumhaus
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Unseren unsichtbaren Griff über die raue Oberfläche hinaus zu erstrecken und halten die Schreie von fünfzig Jahren zurück.

18
    Den ganzen Morgen starrt Kendall mit einem flauen Gefühl im Magen auf Nicos Platz. Sie hat Angst, sich dorthin zu setzen. Und ist doch fast gezwungen, es zu probieren. Sie versucht, über ihre Furcht zu lachen. Es war nur ein dummer Zufall. Wenn sie es laut sagt, ist es lächerlich. Niemand würde glauben, dass ein Tisch etwas mit dem Verschwinden der beiden zu tun hat. Es ist absurd.
    Dennoch schwirrt ihr der Gedanke im Kopf herum. Sie sollte sich dort hinsetzen, um zu beweisen, dass es nicht am Tisch liegt.
    Jacián sitzt neben ihr, ignoriert sie aber demonstrativ. Auf dem Weg zur Schule murmelte er allerdings ein »Danke«, weil sie keine Anzeige erstattet haben. Aber Kendall nimmt ihn gar nicht wahr. Sie legt wie üblich den Kopf auf das Pult, Ms Hinkler wird sie sowieso nicht aufrufen. Seit Nicos Verschwinden hat die Lehrerin Kendall nicht eine einzige direkte Frage gestellt.
    Als an diesem kühlen Herbsttag alle in der Mittagspause nach draußen gehen, bleibt Kendall drinnen. Langsam steht sie auf, mit klopfendem Herzen. Sie geht an Nicos Platz und setzt sich langsam hin, schließt die Augen und hält den Atem an. Und dann breitet sie die Arme aus, als wolle sie ihn umarmen.
    Nico , denkt sie, bist du da?
    Sie legt den Kopf auf den Tisch und stößt den Atem aus, versucht, sich zu entspannen und an ihn zu denken. Denkt an die schönen Zeiten mit ihm. Lässt ihr Gehirn von den Erinnerungen überfluten.
    Es ist harmlos. Sie ist immer noch im Raum und sitzt an Nicos Platz. Immer noch hier und nicht verschwunden. Nach einer Weile setzt sie sich auf und fährt mit den Fingern über die Tischplatte. Sie liest alle Kritzeleien, wie sie es oft tut, doch aus diesem Blickwinkel scheint es anders. Sie verliert sich in den Worten, die in ihrem Kopf herumwirbeln, und versucht, sie richtig klingen zu lassen, wie ein Gedicht. Ein Durcheinander von Worten, die in den letzten fünfzig Jahren von einem Dutzend Schülern aufgeschrieben wurden.
    Sie landet bei dem Hilferuf. Wahrscheinlich von einem gelangweilten Schüler, der die Minuten auf der Uhr langsam verrinnen sieht und auf etwas Tolles wartet, das erst am Ende des Tages geschehen wird.
    Bitte.
Rette mich.
    Sie fährt die Buchstaben mit den Fingern nach und fragt sich erneut, warum sie ihr früher nicht aufgefallen sind.
    Plötzlich hört sie ein Flüstern. Bitte. Rette mich. Wie Wind in den Blättern, so schwach, dass Kendall sicher ist, sich verhört zu haben.
    Es kribbelt am ganzen Körper, und sie spürt ein Prickeln im Nacken. Schnell zieht sie die Hand weg und sieht sich im Klassenzimmer um.
    »Wer ist da?«
    Ihr Herz rast. Vorsichtig streckt sie noch einmal die Hand nach den Worten aus und lässt den Zeigefinger darübergleiten. In ihrem Körper pulsiert das Adrenalin, als stände sie unter Drogen, und sie schließt die Augen. Wieder hört sie das zärtliche Flüstern an ihrem Ohr, dringender dieses Mal.
    Bitte! Rette Mich!
    Kendall ist fasziniert. Das euphorische Gefühl ist überwältigend, als sei sie zu schnell und zu weit gelaufen, aber sie will immer noch mehr. Sie lehnt sich über die Worte, fährt die Buchstaben mit dem Finger nach und hört in ihrem Ohr das Flüstern, immer wieder.
    Sobald sie ihren Finger wegnimmt, verebbt das Hochgefühl langsam. Einen Augenblick lang bleibt sie still sitzen, während das Flüstern immer leiser wird. Als es still wird, öffnet sie die Augen, und schlagartig wird ihr klar, warum das Flüstern so schön war.
    Es war Nicos Stimme.
    Augenblicklich schlägt Kendalls Paranoia zu. Sie bekommt Angst und kann gar nicht schnell genug vom Tisch aufstehen. Beinahe hätte sie ihn in ihrer Hast, davon wegzukommen, umgeworfen und stößt dabei die Bücher auf ihrem Pult zu Boden. In diesem Moment kehren die Schüler von der Mittagspause zurück.
    »Was zum Teufel war das?«, murmelt sie atemlos, während sie ihre Bücher einsammelt. Ihr Kopf schreit sie an, wegzulaufen, fort von dem wunderbaren Bösen.
    Sie weiß, was auch immer es war, es war nicht real. Es kann nicht real sein. Es muss irgendwie an der Trauer liegen, dass man die Stimme eines Verstorbenen hören kann und glaubt, dass er es wirklich ist. Doch was eben geschehen ist, war einfach so stark. Als Jacián hereinkommt und sich setzt, versucht sie zu Atem zu kommen. Kendall lässt sich mit immer noch klopfendem Herzen auf ihren Stuhl fallen und

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