Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
nicht erkennen. Er wollte aber auch nicht genauer hinschauen, um nicht unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Er suchte die Bibliothek auf.
»Heilige Xenia!«, stieß Lew aus, als er ihn bemerkte. »Ich traue meinen Augen nicht! Woher kommst du denn mit einem Mal?! Hast du es geschafft, den Wippern zu entfliehen?«
»So kann man das ausdrücken …«
Artur berührte den Globus und streichelte automatisch den schlafenden altersschwachen Fleder. Bei dieser unbedarften Geste klappte Lew schier der Unterkiefer runter. In dem schummrigen Saal war alles beim Alten geblieben: die Karten an den Wänden, die Spinnweben in den Ecken, der angenehme Geruch nach trockenem Holz im Kamin. Auch Lew hatte sich nicht verändert, er war noch immer grauhaarig und flink. Allerdings hatten sich ein paar neue Wesenszüge in sein Verhalten geschlichen. Er war jetzt irgendwie ständig auf der Hut…
»Ich habe in ihrem Dorf gelebt und mit ihnen gearbeitet. Ich habe drei Kinder und eine Frau. Ich glaube, das reicht erst mal an Informationen, oder?« Beim Anblick des fassungslosen Bibliothekars konnte sich Artur ein Grinsen nicht verkneifen. »Jetzt bist du dran: Was ist mit Pap Rubens?«
Lews Blick huschte zur Tür: »Dann weißt du es noch nicht? Nachdem bekannt geworden ist, dass er sich mit Wippern und Zauberern eingelassen hat, ist es zum Aufstand gekommen. Michail und Lidia sind geflohen. Seine eigene Tochter hat ihn verraten. Sie ist jetzt übrigens mit dem Sohn des Gouverneurs verheiratet …«
»Und warum gibt es unten keine Wache mehr? Was ist denn aus Flöckchen geworden?«
»Du scheinst mal wieder aus der Vergangenheit zu kommen … Hör zu, mein Junge, du solltest dich hier nicht blicken lassen, sonst endest du noch am Galgen. Überall erzählt man sich nämlich, wie du mit bloßen Händen einen Wipper gefesselt und damit Rubens’ Karawane gerettet hast. Über den Schmied sind heute Legenden bekannt! Was den Tiger angeht … Flöckchen ist erschossen worden. Eine Wache haben wir mittlerweile nur noch nachts. Sie besteht ausschließlich aus Offizieren des Geheimdienstes …«
»Wenn ich so eine schillernde Legende bin – warum sollte mich dann jemand aufhängen wollen?«
»Weil man heute auf Legenden gern verzichtet, ja, weil es sogar gefährlich ist, an Helden der Vergangenheit zu erinnern. Es gibt keine freien Kommunen mehr. Die ganze Stadt untersteht seit einem Jahr dem Gouverneur. Es hat alles mit einer Schlägerei in der Duma angefangen. Die Leute vom Gouverneur waren schon immer rebellisch, aber damals wollten sie in der Frage, wem es zustehe, die Menschen zur Entwässerung der Metro und zur Anfuhr sauberen Wassers einzusetzen, einfach nicht nachgeben. Uns haben bei dieser Sitzung Arina Rubens, Rokotow, mein Bruder Arkascha und noch zwei andere vertreten. Sie haben vorgeschlagen, über diese Frage geheim abzustimmen, aber da haben sich diese Knallköpfe von der Petrograder Seite quergestellt und erklärt, das sei unehrenhaft, weil kleine Kommunen eben nur wenige Abgeordnete entsenden würden und sich deshalb nie gegen die großen durchsetzen könnten. Dann haben sie erklärt, dass sie künftig keine Patrouillen mehr stellen würden, weil die Achte Division allen, die in die Stadt kämen, Steuern abknüpfe, ohne diese mit den anderen Patrouillen zu teilen.«
Er hielt inne, um Atem zu holen.
»Mit einem Wort«, fuhr er fort, »die Gemüter waren schon bald derart erhitzt, dass sie buchstäblich mit Wasser gekühlt werden mussten. Während sie sich noch prügelten, hat der Gouverneur seine Meuchelmörder zusammengerufen und das Gebäude umstellt. Er hat sie gezwungen, ihm persönlich den Oberbefehl über die Stadt zu übertragen. Wenn du mich fragst, hat er das ziemlich clever eingefädelt … Und vermutlich mit Arinas Hilfe. Sie ist klug, dann noch ihre Gabe … Und selbstverständlich hat sie ihren Schwiegervater unterstützt. Dafür verurteile ich sie auch gar nicht. Sie ist mit Soldaten des Gouverneurs in den Palast gekommen und hat die beiden Brüder Abaschidze, Ruslan und Sergo, entwaffnet. Angeblich hat man einen Brief von Mischa Rubens bei ihnen sichergestellt und sie der Verschwörung angeklagt. Die beiden konnten jedoch in letzter Sekunde zusammen mit zwei Dutzend Männern, die ihnen treu ergeben waren, aus der Stadt fliehen …«
Abermals hielt er kurz inne, ehe er seinen Bericht fortsetzte: »Das Ende vom Lied war dann, dass der Gouverneur die Macht an sich gerissen hat, indem er nach und nach
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