Cryptonomicon
wohl. Doch während er hier auf der Krone der Schutzmauer an der dunklen Kreuzung in Bletchley Park sitzt, will ihm eines nicht aus dem Kopf: Die Turing-Maschine, wenn es denn eine gäbe, wäre auf ein Band angewiesen. Das Band liefe durch die Maschine. Es trüge die Informationen, die die Maschine bräuchte, um ihre Arbeit zu tun.
Während Waterhouse da sitzt und in die Dunkelheit starrt, rekonstruiert er im Geist Turings Maschine. Immer mehr Details fallen ihm ein. Das Band, so erinnert er sich nun, würde sich nicht in einer Richtung durch die Turing-Maschine bewegen; es würde häufig die Richtung wechseln. Und die Turing-Maschine würde das Band nicht bloß lesen; sie wäre auch imstande, Markierungen zu löschen und neue hinzuzufügen.
Nun kann man Löcher in einem Papierband eindeutig nicht löschen. Und ebenso eindeutig bewegt sich das Band in der Bletchley-Park-Maschine nur in eine Richtung. Es handelt sich daher, so ungern sich Waterhouse dies auch eingesteht, bei dem Röhrengestell, das er vorhin erspäht hat, nicht um eine Turing-Maschine. Es ist ein unbedeutenderes Gerät – ein Spezialwerkzeug wie etwa ein Lochkartenleser oder Atanasoffs Gerät zum Lösen von Differentialgleichungen.
Dabei ist es immer noch größer und ungleich phantastischer als alles, was Waterhouse je gesehen hat.
Ein Nachtzug aus Birmingham, der Munition ans Meer befördert, saust vorbei. Während sein Rauschen im Süden erstirbt, nähert sich ein Motorrad dem Haupttor des Parks. Sein Motor tuckert im Leerlauf, während die Papiere des Fahrers überprüft werden, dann hört Waterhouse das laute Knattern, mit dem es anfährt und um den scharfen Knick in die Gasse einbiegt. Waterhouse stellt sich auf den Schnittpunkt der Mauern und sieht aufmerksam zu, wie das Motorrad an ihm vorbeiknattert und auf eine »Baracke« mehrere Blocks weiter zuhält. Plötzlich strömt Licht aus einer offenen Tür, als die Ladung den Besitzer wechselt. Dann wird das Licht gelöscht, und das Motorrad legt eine lange Lärmranke über die Straße zum Parktor.
Waterhouse lässt sich auf den Boden herab und tastet sich durch die mondlose Nacht die Straße entlang. Er bleibt vor dem Eingang zu der Baracke stehen und lauscht eine Zeit lang dem Gesumme darin. Dann nimmt er seinen Mut zusammen, tritt vor und stößt die Holztür auf.
Es ist unangenehm heiß hier drin, und die Atmosphäre ist ein Übelkeit erregendes Destillat menschlicher und maschineller Gerüche, im Raum gehalten und verdichtet von den über sämtliche Fenster geklappten Sargdeckeln. Viele Leute sind hier, größtenteils Frauen, die an gargantuanischen, elektrisch betriebenen Schreibmaschinen arbeiten. Obwohl er die Augen zusammengekniffen hat, kann er sehen, dass der Raum als Auffangbecken für kleine, etwa zehn mal fünfzehn Zentimeter messende Zettel dient, die offensichtlich von den Motorradfahrern gebracht werden. In der Nähe der Tür sind sie sortiert und in Drahtkörben gestapelt worden. Von hier aus gehen sie zu den Frauen an den riesigen Schreibmaschinen.
Einer der wenigen Männer hier ist aufgestanden und kommt auf Waterhouse zu. Er ist ungefähr in Waterhouses Alter, d. h. Anfang zwanzig. Er trägt eine britische Armeeuniform und zeigt das Gebaren eines Gastgebers bei einem Hochzeitsempfang, der sicherstellen will, dass auch die am längsten vermissten, entferntesten Familienmitglieder angemessen begrüßt werden. Offensichtlich ist er ebenso wenig ein echter Militär wie Waterhouse selbst. Kein Wunder, dass der ganze Ort von so viel Stacheldraht und RAF-Leuten mit Maschinenpistolen umgeben ist.
»Guten Abend, Sir. Kann ich Ihnen helfen?«
»Abend. Lawrence Waterhouse.«
»Harry Packard. Angenehm.« Aber er hat keine Ahnung, wer Waterhouse ist; in Ultra ist er eingeweiht, nicht aber in Ultra Mega.
»Ganz meinerseits. Ich denke, Sie werden sich das hier ansehen wollen.« Waterhouse reicht ihm den magischen Passierschein. Packards fahler Blick gleitet aufmerksam darüber, dann huscht er hierhin und dorthin und konzentriert sich auf ein paar Stellen von besonderem Interesse: die Unterschrift, den verwischten Stempel. Der Krieg hat Harry Packard in eine Maschine zur Prüfung und Weiterverarbeitung von Papierzetteln verwandelt und in diesem Falle geht er seiner Arbeit ruhig und ohne Getue nach. Er entschuldigt sich, betätigt die Kurbel eines Telefons und spricht mit jemandem; seine Haltung und sein Gesichtsausdruck deuten darauf hin, dass es jemand Wichtiges ist. Bei dem
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