Cryptonomicon
andere, viel höhere Stufe von technischem Raffinement«, pflichtet Packard bei. »Sie gleichen beinahe mechanischen Denkmaschinen.«
»Wo sind sie untergebracht?«
»Baracke 11. Aber im Moment werden sie nicht laufen.«
»Stimmt«, sagt Waterhouse, »erst nach Mitternacht, wenn die Kutsche sich wieder in den Kürbis verwandelt und Sie die Enigma-Einstellungen von morgen knacken müssen.«
»Genau.«
Packard geht zu einer kleinen Holzluke hinüber, die auf niedriger Höhe in eine Außenwand der Baracke eingelassen ist. Daneben steht ein Ablagekorb, an dessen Schmalseiten jeweils ein Haushaltshaken mit einer daran befestigten Schnur angeschraubt ist. Eine der Schnüre liegt als lockeres Knäuel auf dem Boden. Die andere verschwindet hinter dem geschlossenen Lukendeckel. Packard legt den Zettel auf einen Stapel ähnlicher, der sich in dem Ablagekorb angesammelt hat, dann schiebt er den Deckel zurück, hinter dem ein enger, von der Baracke weg führender Tunnel sichtbar wird.
»Okay, ziehen!«, ruft er.
»Okay, ich ziehe!«, tönt es gleich darauf zurück. Die Schnur spannt sich, der Ablagekorb gleitet in den Tunnel und verschwindet.
»Unterwegs zu Baracke 3«, erklärt Packard.
»Dann gehe ich da auch hin«, sagt Waterhouse.
Baracke 3 liegt nur ein paar Meter weiter, auf der anderen Seite der unvermeidlichen Schutzmauer. ABTEILUNG DEUTSCHES MILITÄR steht in Kursivschrift an der Tür; er vermutet, dass das als Gegensatz zu »MARINE« zu verstehen ist, die sich in Baracke 4 befindet. Das Verhältnis Männer zu Frauen scheint hier höher zu sein. In Kriegszeiten überrascht es einen, so viele gesunde junge Männer in einem Raum beieinander zu sehen. Manche tragen Army- oder RAF-Uniform, manche Zivilkleidung und es ist sogar ein Marineoffizier anwesend.
Ein großer, hufeisenförmiger Tisch mit einem daran geschobenen rechteckigen Tisch beherrscht die Mitte des Raums. Sämtliche Stühle an beiden Tischen sind von eifrig beschäftigten Leuten besetzt. Die Zettel mit den Funkmeldungen werden auf dem hölzernen Ablagekorb in die Baracke gezogen und bewegen sich dann nach einem ausgeklügelten System, das Waterhouse zu diesem Zeitpunkt nur ungefähr begreift, von Stuhl zu Stuhl. Jemand erklärt ihm, dass die Bomben gegen Abend die Tagescodes geknackt haben und in den letzten zwei Stunden sämtliche abgehörten Funksprüche des Tages durch den Tunnel aus Baracke 6 gekommen sind.
Er beschließt, sich die Baracke vorderhand als mathematische Black Box vorzustellen – d. h., er wird sich auf den Informationseingang und -ausgang konzentrieren und die inneren Details ignorieren. Als Ganzes genommen, ist Bletchley Park eine Art Black Box: Beliebige Buchstaben strömen herein, strategisch wichtige Informationen strömen hinaus und die internen Einzelheiten sind für die meisten Leute auf dem Ultra-Verteiler ohne Interesse. Die Frage, der Waterhouse hier auf den Grund gehen will, ist folgende: Gibt es noch einen anderen Informationsvektor, der, gewissermaßen unterschwellig in den Fernschreiber-Signalen und dem Verhalten der alliierten Befehlshaber verborgen, aus diesem Ort hinausweist? Und zeigt er auf Dr. Rudolf von Hacklheber?
KINAKUTA
Wer immer die Flugrouten zu dem neuen Flughafen des Sultans entworfen hat, muss mit der Handelskammer von Kinakuta unter einer Decke gesteckt haben. Wenn man wie Randy Waterhouse das Glück hat, einen Fensterplatz auf der linken Seite zu ergattern, erscheint einem der Ausblick beim Landeanflug wie ein aus dem Flugzeug gedrehter Werbefilm.
Kinakutas wie mit grünen Matten ausgelegte Hänge tauchen aus einer zumeist ruhigen blauen See auf und erheben sich schließlich so hoch, dass sie auf den Gipfeln mit Schnee bestäubt sind, obwohl die Insel nur sieben Grad nördlich des Äquators liegt. Randy wird sofort klar, was Avi damit meinte, als er sagte, der Ort sei an den Rändern muslimisch und in der Mitte animistisch. Die einzigen Stellen, wo man hoffen konnte, so etwas wie eine moderne Stadt zu erbauen, befinden sich entlang der Küste, die mit Unterbrechungen von einem Streifen nahezu flachen Landes gesäumt wird – einer beigefarbenen Rinde, die an einem riesigen Smaragd haftet. Die größte und flachste Stelle befindet sich an der nordöstlichen Ecke der Insel, wo der Hauptfluss mehrere Kilometer landeinwärts die Talsohle überwindet und in eine Schwemmebene fließt, die sich zu einem Delta erweitert, das wiederum zwei bis drei Kilometer weit in die Sulusee
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