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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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die Sterne herauskommen, schwimmt er auf dem Rücken weiter und ortet den Polarstern. Solange er davon wegschwimmt, ist es physikalisch unmöglich, dass er Neuguinea verfehlt.
    Dunkelheit bricht herein. Die Sterne und der Halbmond spenden trübes Licht. Die Männer verständigen sich durch Zurufe und versuchen, dicht beieinander zu bleiben. Einige verschwinden; man kann sie hören, aber nicht sehen, und die in der Hauptgruppe können nichts tun als ihrem schwächer werdenden Flehen zu lauschen.
    Es muss gegen Mitternacht sein, als die Haie kommen. Das erste Opfer ist ein Mann, der sich die Stirn an einem Lukenrahmen aufgeschlagen hat, als er aus einem sinkenden Schiff kraxelte, und seither blutet, sodass sich ein dünner rosa Faden übers Meer zieht, der die Haie geradewegs zu ihnen führt. Die Haie wissen noch nicht, womit sie es zu tun haben, und so töten sie ihn langsam, quälen ihn mit kleinen Bissen zu Tode. Als sich herausstellt, dass er leichte Beute ist, verfallen sie in eine Art wütende Raserei, die umso unheimlicher ist, als sie sich unter der dunklen Wasseroberfläche abspielt. Männerstimmen brechen mitten im Schrei ab, wenn ihre Besitzer nach unten gerissen werden. Manchmal durchstößt plötzlich ein Bein oder ein Kopf die Oberfläche. Das Wasser, das Goto Dengo in den Mund klatscht, beginnt nach Eisen zu schmecken.
    Der Angriff dauert mehrere Stunden. Wie es scheint, haben der Lärm und der Geruch rivalisierende Haifischrudel angelockt, denn manchmal tritt eine Pause ein, der neues Wüten folgt. Eine abgetrennte Schwanzflosse stößt Goto Dengo gegen das Gesicht; er hält sich daran fest. Die Haie fressen seine Kameraden; warum nicht Vergeltung üben? Die Restaurants von Tokio verlangen viel Geld für Haifisch-Sashimi. Die Haut der Schwanzflosse ist zäh, doch aus dem zerrissenen Rand baumeln Muskelstücke. Er vergräbt das Gesicht in dem Fleisch und tut sich daran gütlich.
    Als Goto Dengo ein Kind war, hatte sein Vater einen Filzhut mit einer englischen Aufschrift auf dem elfenbeinfarbenen Schweißband, eine Bruyèrepfeife und Tabak, den er per Post aus Amerika bezog. Er pflegte auf einem Felsen oben in den Bergen zu sitzen, sich den Hut tief herunterzuziehen, um die kahle Stelle auf seinem Schädel vor der kalten Luft zu schützen, seine Pfeife zu rauchen und sich einfach die Welt zu begucken.
    »Was machst du da?«, fragte Goto Dengo ihn dann.
    »Ich beobachte«, sagte Vater.
    »Aber wie lange kann man ein und dasselbe beobachten?«
    »Für immer. Sieh mal da drüben hin.« Vater benutzte den Stiel seiner Pfeife zum Zeigen. Aus dem Mundstück kräuselte sich weißer Rauch, wie ein Seidenfaden, der von einem Kokon abgewickelt wird. »Das dunkle Felsenband dort ist mineralhaltig. Da könnten wir Kupfer herausholen, wahrscheinlich auch Zink und Blei. Wir würden eine Zahnradbahn talaufwärts führen, bis zu der flachen Stelle da, dann würden wir parallel zum Streb einen schrägen Schacht abteufen...« Dann beteiligte sich Goto Dengo an dem Spiel und entschied, wo die Arbeiter wohnen würden, wo die Schule für ihre Kinder gebaut und wo der Sportplatz liegen würde. Am Ende hatten sie das ganze Tal mit einer imaginären Stadt bevölkert.
    Goto Dengo hat in dieser Nacht reichlich Zeit, Beobachtungen anzustellen. Er beobachtet, dass abgetrennte Körperteile fast nie angegriffen werden. Die Männer, die am heftigsten zappeln, erwischt es immer als Erste. Also versucht er, wenn die Haie kommen, sich auf dem Rücken treiben zu lassen und keinen Muskel zu rühren, auch wenn ihn die gezackten Enden eines Brustkorbs ins Gesicht stupsen.
    Der Morgen graut, ein- oder zweihundert Stunden nach dem vorangegangenen Sonnenuntergang. Goto Dengo ist noch nie die ganze Nacht auf gewesen und findet es entsetzlich, etwas so Großes wie die Sonne auf der einen Seite des Planeten untergehen und auf der gegenüberliegenden wieder heraufkommen zu sehen. Er ist ein Virus, ein Keim, der auf der Oberfläche unfassbar riesiger Körper in heftiger Bewegung lebt. Und erstaunlicherweise ist er immer noch nicht allein: Noch drei andere haben die Nacht der Haie überlebt. Sie nähern sich einander und drehen sich dann den eisbedeckten Bergen von Neuguinea zu, die im Morgendämmer lachsfarben schimmern.
    »Sie sind nicht näher gekommen«, sagt einer der Männer.
    »Sie liegen tief im Innern«, sagt Goto Dengo. »Wir schwimmen nicht zu den Bergen – nur bis zum Strand – viel näher. Also los, bevor wir an Austrocknung sterben!«

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