Cryptonomicon
Schluss, dass es im Augenblick wichtiger ist, eine große Strecke zurückzulegen als subtil vorzugehen, und so gibt er Befehl zum Auftauchen und tritt dann auf den Pinn. Er verbrennt damit wie unsinnig Treibstoff, aber U-691 hat eine Reichweite von elftausend Meilen.
Irgendwann gegen Mittag am nächsten Tag passiert U-691, das sich durch einen mörderischen Sturm kämpft, die Straße von Dover und gelangt in die Nordsee. Bestimmt lässt das Boot jeden Radarschirm in Europa aufleuchten, aber Flugzeuge können bei diesem Wetter wenig machen.
»Der Gefangene Shaftoe möchte Sie sprechen«, sagt Beck, der wieder stellvertretender Kommandant geworden ist, als wäre nie etwas gewesen. Der Krieg verleiht den Menschen eine große Ignorierfähigkeit. Bischoff nickt.
Shaftoe betritt die Zentrale, begleitet von Root, der offensichtlich als Übersetzer, geistlicher Berater und/oder ironischer Beobachter dienen wird. »Ich weiß einen Ort, wo wir hinkönnen«, sagt Shaftoe.
Bischoff ist völlig von den Socken. Er hat seit Tagen nicht mehr darüber nachgedacht, wohin sie eigentlich fahren. Die Vorstellung, ein schlüssiges Ziel zu haben, übersteigt beinahe sein Begriffsvermögen.
»Es ist« – Bischoff sucht nach Worten – » rührend, dass Sie sich dafür interessieren.«
Shaftoe zuckt die Achseln. »Ich habe gehört, Sie stecken bei Dönitz tief in der Scheiße.«
»Ganz so schlimm ist es nicht mehr«, sagt Bischoff, dem sich die volkstümliche Weisheit dieser amerikanischen Bauernmetapher unmittelbar mitteilt. »Die Tiefe ist noch die gleiche, aber inzwischen habe ich den Kopf oben anstatt unten.«
Shaftoe kichert erfreut. Mittlerweile sind sie alle Kumpel. »Haben Sie Karten von Schweden?«
Bischoff findet das eine verlockende, aber schwachsinnige Idee.Vorübergehend Zuflucht in einem neutralen Land suchen: prima. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie das Boot an einem Felsen auf Grund setzen.
»Es gibt da eine Bucht bei einer kleinen Stadt«, sagt Shaftoe. »Wir kennen die Fahrtiefen.«
»Wie das?«
»Weil wir das Scheißding vor ein paar Monaten höchstpersönlich mit einem Stein an einer Schnur vermessen haben.«
»War das, bevor oder nachdem Sie das mysteriöse Unterseeboot voller Gold geentert haben?«, fragt Bischoff.
»Kurz davor.«
»Wäre es sehr anmaßend von mir zu fragen, wie ein amerikanischer Marine Raider und ein ANZAC-Militärgeistlicher dazu kommen, in Schweden, einem neutralen Land, Tiefenmessungen vorzunehmen?«
Shaftoe findet das offenbar überhaupt nicht anmaßend. Das Morphium hat ihn in beste Stimmung versetzt. Er erzählt noch eine Räuberpistole. Diesmal beginnt sie an der Küste Norwegens (wie er dorthin gekommen ist, belässt er absichtlich im Unklaren) und handelt davon, wie er Enoch Root und ungefähr ein Dutzend Männer, darunter einen mit einer schweren Axt-Wunde am Bein (Bischoff hebt die Brauen), auf Skiern quer durch Norwegen nach Schweden geführt und dabei wie nicht gescheit deutsche Verfolger umgebracht hat. Die Geschichte fährt sich dann ein wenig fest, weil es keine Deutschen zum Umbringen mehr gibt, und Shaftoe, der spürt, dass Bischoffs Aufmerksamkeit abschweift, versucht der Erzählung ein paar Spannungsmomente einzuhauchen, indem er das Fortschreiten des Wundbrandes am Bein des Offiziers schildert, der mit der Axt in Konflikt geriet (und, soweit es Bischoff mitbekommt, unter dem Verdacht stand, ein deutscher Spion zu sein). Shaftoe fordert Root immer wieder auf, sich einzuschalten und zu erzählen, wie er, Root, das Bein des Offiziers in mehreren aufeinander folgenden Operationen bis hinauf zur Hüfte amputiert habe. Als das arme Schwein mit dem Wundbrand Bischoff schließlich gerade so richtig ans Herz zu wachsen beginnt, nimmt die Geschichte abermals eine abrupte Wendung: Sie erreichen ein kleines Fischerdorf am Bottnischen Meerbusen. Der Offizier mit dem Wundbrand wird der Obhut des ortsansässigen Arztes übergeben. Shaftoe und seine Kameraden verkriechen sich in den Wäldern und knüpfen eine, wie es sich anhört, diffizile Beziehung zu einem finnischen Schmuggler und seiner geschmeidigen Nichte an. Und nun wird deutlich, dass Shaftoe bei seinem Lieblingsteil der Geschichte, nämlich der jungen Finnin, angelangt ist. Bis zu diesem Punkt war sein Erzählstil denn auch so grob, unverblümt und funktional wie das Innere eines Unterseeboots. Nun aber entspannt er sich, beginnt zu lächeln und wird beinahe poetisch – und zwar in einem Maße, dass einige
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