Cryptonomicon
ein paar Monate lang in seinem kleinen Zimmer. Seine Welt besteht aus Füller, Tinte, Papier, Kerzen, Unmengen von Kaffee, Aquavitflaschen, dem beruhigenden Rauschen der Brandung. Jeder Wellenschlag am Ufer, sagt er, erinnert ihn daran, dass er nun über Wasser ist, wo Menschen hingehören. In Gedanken ist er stets dort, dreißig Meter unter der Oberfläche des eisigen Atlantiks, gefangen wie eine Ratte in einem Abflussrohr und unter den Explosionen der Wasserbomben schaudernd. Er hat hundert Jahre so gelebt und jeden Augenblick dieser hundert Jahre damit verbracht, von der Oberfläche zu träumen. Er hat sich zehntausendmal geschworen, dass er, wenn er je in die Welt von Licht und Luft zurückgelangte, jeden Atemzug genießen, in jedem Augenblick schwelgen würde.
Sehr viel mehr tut er auch nicht hier in Norrsbruck. Er hat sein persönliches Journal, und er geht es Seite für Seite durch und trägt, ehe er sie vergisst, sämtliche Einzelheiten ein, die niederzuschreiben er damals keine Zeit hatte. Eines Tages, nach dem Krieg, wird ein Buch daraus werden: eine von einer Million Kriegserinnerungen, die sich in den Bibliotheken von Nowosibirsk über Gander und Sequim bis Batavia breit machen werden.
Nach den ersten Wochen hat die Menge der eingehenden Post schlagartig nachgelassen. Mehrere seiner Männer schreiben ihm noch immer treu und brav. Shaftoe ist daran gewöhnt, ihre Briefe herumliegen zu sehen, wenn er zu Besuch kommt. Die meisten sind auf billigem, gräulichem Papier geschrieben.
Richtungsloses Silberlicht dringt durch Bischoffs Fenster ins Zimmer und beleuchtet etwas, das wie eine rechteckige Pfütze dicker Sahne auf seinem Tisch aussieht. Es handelt sich um irgendein offizielles Hunnen-Briefpapier, dessen Kopf einen Raubvogel mit einem Hakenkreuz in den Krallen zeigt. Der Brief ist von Hand geschrieben, nicht getippt. Als Bischoff sein feuchtes Glas darauf abstellt, zerläuft die Tinte.
Und als Bischoff seine Blase leeren geht, kann Shaftoe den Blick nicht von dem Brief abwenden. Er weiß, dass sich das nicht gehört, aber der Zweite Weltkrieg hat ihm alle möglichen Arten von ungehobeltem Benehmen vermittelt und in Schützengräben scheinen keine zornigen Großväter mit doppelt genommenen Gürteln, ja eigentlich überhaupt keine Konsequenzen für die Bösen zu lauern. Vielleicht wird sich das in ein paar Jahren ändern, falls die Deutschen und die Japaner den Krieg verlieren. Aber diese Abrechnung wird dann so groß und furchtbar ausfallen, dass Shaftoes flüchtiger Blick auf Bischoffs Brief wahrscheinlich unbemerkt bleiben wird.
Der Brief ist in einem Umschlag gekommen. Die erste Zeile der Adresse ist sehr lang. Sie besteht aus »Günter BISCHOFF«, dem ein Rattenschwanz von Rängen und Titeln vorangestellt ist und eine Reihe von Buchstaben folgt. Der Absender ist von Bischoffs Brieföffner zerschlitzt worden, befindet sich jedoch irgendwo in Berlin.
Der Brief ist unterzeichnet mit einem einzigen, gewaltig gespreizten Wort. Shaftoe versucht eine ganze Zeit lang, das Wort zu entziffern; denjenigen, dessen Friedrich Wilhelm das ist. Muss ein Ego haben, das auf einer Höhe mit dem des Generals liegt.
Als Shaftoe dahinter kommt, dass die Unterschrift die von Dönitz ist, wird er ganz kribbelig. Dieser Dönitz ist ein wichtiger Bursche – Shaftoe hat ihn sogar einmal in einer Wochenschau gesehen, wie er einer verschmuddelten Unterseeboot-Mannschaft gratulierte, die gerade von einem Törn zurückgekommen war.
Warum schreibt er Bischoff Liebesbriefe? Shaftoe kann das Zeug genauso wenig lesen, wie er Japanisch lesen könnte. Aber er kann ein paar Zahlen erkennen. Dönitz spricht von Zahlen.Vielleicht versenkte Bruttoregistertonnen oder Verluste an der Ostfront. Vielleicht auch Geld.
»Ach ja!«, sagt Bischoff, der irgendwie wieder im Zimmer aufgetaucht ist, ohne ein Geräusch zu machen. In einem Unterseeboot auf Schleichfahrt lernt man das Leisegehen. »Ich habe eine Hypothese über das Gold entwickelt.«
»Welches Gold?«, fragt Shaftoe. Er weiß es natürlich, aber da er bei einer krassen Ungezogenheit erwischt worden ist, rät ihm sein Instinkt, den Unschuldigen zu spielen.
»Das du unten bei den Batterien von U-553 gesehen hast«, sagt Bischoff. »Allerdings, mein Freund, würde jeder andere sagen, dass du schlicht ein verrückter Ledermann bist.«
»Das richtige Wort lautet Ledernacken.«
»Als Erstes würde man sagen, dass U-553 schon viele Monate, bevor du es angeblich gesehen hast,
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