Cryptonomicon
eine halbe Tonne schweren Tisch wirft und die Tür damit blockiert.
Sich solche Szenen auszudenken hilft, die Langeweile des Gefängnisalltags zu durchbrechen, und erklärt wahrscheinlich zu einem großen Teil die Begeisterung von Randys Gefängnisgenossen für Videos, die sie zwar nicht wirklich anschauen können, über die sie sich aber in einer Mischung aus Englisch und Tagalog, die Randy mittlerweile versteht, unentwegt unterhalten. Aufgrund der Videos, oder besser ihres Nichtvorhandensein, hat sich das Phänomen einer medialen Rückwärtsentwicklung eingestellt: ein mündliches Geschichtenerzählen, verwurzelt in Videos, die diese Burschen irgendwann einmal gesehen haben. Eine besonders anrührende Beschreibung zum Beispiel von Stallone in Rambo III , wie er seine Bauchschusswunde ausbrennt, indem er eine aufgerissene Gewehrpatrone zündet und Schießpulverflammen darauf richtet, stürzt die Männer ausnahmslos in mehrere Augenblicke ehrfürchtiger Bewunderung. Das ist so etwa die einzige Zeit der Ruhe, die Randy jetzt hat, und folglich hat er begonnen, sich einen neuen Plan zurechtzulegen: Er wird seine kalifornische Herkunft ausschlachten, indem er behauptet, dass er Kung-Fu- und Karate-Filme gesehen hat, die noch nicht als Raubkopien in die Straßen von Manila vorgedrungen sind, und wird sie in so beredten Worten wiedergeben, dass das gesamte Gefängnis für ein paar Minuten zu einem Ort klösterlicher Beschaulichkeit wird, wie das idealisierte Dritte-Welt-Gefängnis, in dem Randy gerne wäre. Randy hat Papillon , als er noch ein Kind war, mehrmals von der ersten bis zur letzten Seite gelesen und sich Gefängnisse in der Dritten Welt immer als Orte äußerster, erhabener Isolation vorgestellt: sengende tropische Sonne, die die feuchte, dunstige Luft zum Glühen bringt, wenn sie über die eng nebeneinander ins dicke Mauerwerk gesetzten Eisenstäbe hereinfällt.Verschwitzte Steppenwölfe, die mit nacktem Oberkörper in ihren Zellen auf und ab schnüren und darüber nachgrübeln, an welcher Stelle es schief gelaufen ist. Heimlich auf Zigarettenpapier gekritzelte Gefängnistagebücher.
Dagegen ist das Gefängnis, in dem sie Randy festhalten, eine regelrecht wimmelnde städtische Gesellschaft, von deren Mitgliedern manche im Augenblick einfach nicht fortgehen können. Abgesehen von Randy und einer ständig wechselnden Population Betrunkener sind hier alle ausgesprochen jung, sodass er sich richtig alt fühlt.Wenn er noch einen einzigen durch Videos verdummten Jungen in einem nachgemachten »Hard Rock Cafe«-T-Shirt herumstolzieren und mit Gebärden von amerikanischen Gangsta-Rappers protzen sieht, muss er möglicherweise tatsächlich zum Mörder werden.
Rechtsanwalt Alejandro fragt – und die Frage ist rein rhetorisch: »Warum ›Tod den Drogenschmugglern‹?« Randy hat nicht gefragt, warum, aber Rechtsanwalt Alejandro möchte ihm etwas über das Warum sagen. »Die Amerikaner waren sehr verärgert darüber, dass einige Leute in diesem Teil der Welt nicht aufgehört haben, ihnen die Drogen zu verkaufen, die sie unbedingt haben wollen.«
»Tut mir Leid. Was soll ich da sagen? Wir sind das Hinterletzte. Ich weiß, dass wir das Hinterletzte sind.«
»Und so haben wir als Geste der Freundschaft zwischen unseren Völkern die Todesstrafe eingeführt. Das Gesetz sieht zwei und nur zwei Hinrichtungsmethoden vor«, fährt Rechtsanwalt Alejandro fort, »die Gaskammer und den elektrischen Stuhl.Wie Sie sehen, haben wir den Amerikanern – auf diesem Gebiet wie auf vielen anderen, was teils klug und teils dumm war – den Rang abgelaufen. Nun hatten wir damals nirgendwo auf den Philippinen eine Gaskammer. Es wurde ein Gutachten angefertigt. Pläne wurden erstellt. Haben Sie eine Ahnung, was der Bau einer anständigen Gaskammer alles mit sich bringt?« Jetzt redet Rechtsanwalt Alejandro sich richtig in Fahrt, aber Randy kann sich kaum konzentrieren, bis irgendetwas in Alejandros Ton ihm sagt, dass die Coda naht. »... sagte die Gefängnisverwaltung: ›Wie können Sie von uns erwarten, dass wir diese Erfindung des Raumzeitalters bauen, wenn wir nicht einmal die Mittel haben, Rattengift für unsere überfüllten Gefängnisse zu kaufen?‹ Daran können Sie sehen, dass sie nur nach mehr Mitteln jammerten. Verstehen Sie?« Rechtsanwalt Alejandro zieht viel sagend die Augenbrauen hoch und saugt die Wangen ein, während er gut zwei oder drei Zentimeter einer Marlboro zu Asche verwandelt. Sein offensichtliches Bedürfnis, die
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