Cujo
sie von hinten angestoßen, schienen sie wie Schreie der Angst und der Qual; dann war sie tot, und so würde ihre Nichte Abby sie am nächsten Tag finden, und ihr Kaffee würde so kalt sein wie sie, und die Zigarette würde als feiner, dünner Aschenstab auf dem Tisch liegen; ihr Unterkiefer würde herabgesunken sein und ihr faltiger Mund wie ein Schlitz voller Zähne aussehen.
Kurz bevor Tad ins Bett mußte, saßen Vic und er auf der Veranda hinter dem Haus. Vic trank Bier, Tad ein Glas Milch.
»Daddy?«
»Was ist denn?«
»Ich will nicht, daß du nächste Woche wegfährst.«
»Ich komm doch bald wieder zurück.«
»Ja, aber …«
Tad schlug die Augen nieder und kämpfte mit den Tränen. Vic legte ihm die Hand auf den Nacken.
»Aber was?«
»Wer sagt dann die Worte, damit das Ungeheuer nicht aus dem Schrank kommt? Mommy kennt sie nicht. Nur du kennst sie!«
Jetzt liefen”Tad die Tränen über die Wangen.
»Ach deshalb«, sagte Vic.
Die Worte an die Ungeheuer (ursprünglich hatte Vic sie den Ungeheuerkatechismus genannt, aber mit diesem Wort hatte Tad Schwierigkeiten) waren gegen Ende des Frühjahrs entstanden, als es mit Tads schlaflosen Nächten und seinen Angstträumen anfing. Er behauptete immer, es sei etwas in seinem Schrank; nachts ging manchmal die Schranktür auf, und er sah dann etwas mit gelben Augen, das ihn auffressen wollte. Donna glaubte, das seien Nachwirkungen irgendwelcher Gruselgeschichten, die er vielleicht gehört hatte. Vic hatte Roger gegenüber (Donna hatte er davon nichts gesagt) geäußert, Tad habe vielleicht von der Mordserie in Castle Rock gehört und sei nun überzeugt, daß der Mörder noch lebte und sich in seinem’ Schrank.versteckt hielt. Roger hielt das für möglich; bei Kindern sei alles möglich.
Und einige Wochen später glaubte selbst Donna ein wenig an den Spuk; sie erzählte Vic eines Morgens unter nervösem
Lachen, daß die Sachen in Tads Schrank manchmal plötzlich anders lagen. Vic hatte gemeint, das müsse Tad wohl getan haben. Du verstehst einfach nicht, sagte Donna. Er geht nicht mehr an den Schrank, Vic … niemals. Er hat Angst davor. Und sie hatte behauptet, selbst einen schlechten Geruch im Schrank festgestellt zu haben, nachdem Tad seine Alpträume erlebt hatte. Als ob ein Tier dort eingesperrt gewesen wäre. Vic hatte den Schrank inspiziert und darin geschnüffelt. Vielleicht war Tad im Schlaf aufgestanden und in den Schrank gegangen und hatte dort als Folge irgendeines Traumablaufs uriniert. Aber Vic hatte nur Mottenkugeln gerochen. Der Schrank hatte etwa die Größe eines Schlafwagenabteils, aber ein Ungeheuer gab es dort nicht.
Donna hatte vorgeschlagen, dafür zu sorgen, daß Tad vor dem Einschlafen »gute Gedanken« hatte und daß er betete, um seine nächtlichen Ängste zu bekämpfen. Tad hatte geantwortet, das Ungeheuer raube ihm seine guten Gedanken, und Beten habe keinen Zweck, weil Gott nicht an Ungeheuer glaube. Sie hatte allmählich die Geduld verloren, teils wahrscheinlich deshalb, weil der Spuk in Tads Schrank sie selbst in seinen Bann gezogen hatte. Einmal, als sie Tads Hemden hineinhängte, hatte sich die Tür lautlos hinter ihr geschlossen, und sie hatte vierzig entsetzliche Sekunden gebraucht, die Tür zu finden. Und diesmal hatte sie etwas gerochen, etwas Heißes und Bösartiges und Stickiges. Der Geruch erinnerte sie ein wenig an Steve Kemps Schweiß, wenn sie sich geliebt hatten. Aber da es keine Ungeheuer gab, konnte man Tad nur den guten Rat geben, ganz einfach seinen Teddy in den Arm zu nehmen und zu schlafen.
Vic sah die Dinge anders. Vielleicht erinnerte er sich auch besser daran, daß eine geöffnete Schranktür im Dunkel der Nacht tatsächlich wie der Rachen eines Ungeheuers aussehen konnte, daß hängende Kleider wie hängende Menschen wirken konnten. Er erinnerte sich vage, welche unheimlichen Schatten die Straßenlaternen in den endlosen Stunden nach Mitternacht an die Wand werfen konnten, und er kannte die knarrenden Geräusche, die vielleicht das Haus verursachte, die vielleicht aber auch bedeuteten, daß sich etwas leise heranschlich.
Seine Lösung war der Ungeheuerkatechismus gewesen, oder, für einen in der Semantik noch unbedarften Vierjährigen, ganz einfach die Worte an die Ungeheuer. In jedem Fall waren sie nicht mehr (und nicht weniger) als eine primitive Beschwörung, um das Übel fernzuhalten, Vic hatte sie sich eines Tages während der Mittagspause ausgedacht, und zu Donnas Erleichterung und auch zu
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