Cupido #1
Psychiater.
Unwillkürlich wich C.J. vor dem Kalender zurück, vor der Wahrheit, die sie die ganze Zeit vor Augen gehabt hatte. Das Zimmer drehte sich, und ihr wurde speiübel. Was hatte das zu bedeuten? Wie konnte das sein? Er hatte sie beide behandelt. Er hatte ihren Vergewaltiger behandelt. Wie lange ging das schon so? Jahre? Ihre Erinnerungen flatterten durcheinander wie ein Schwärm aufgeschreckter Vögel. War sie Bantling hier begegnet? Hatte sie hier im Wartezimmer neben ihm gesessen, ein Lächeln oder eine Zeitschrift mit ihm ausgetauscht oder Smalltalk über das Wetter mit ihm gemacht, bis der Onkel Doktor sie aufrief? Was wusste Chambers? Was hatte Bantling ihm mitgeteilt? Was wusste Bantling? Was hatte Chambers ihm erzählt? Gedanken, die sie gestern Nacht noch als paranoid und unvernünftig verdrängt hatte, rasten ihr jetzt durch den Kopf und drohten sie zu überwältigen. Die Luft verdichtete sich, und das Atmen fiel ihr schwer.
Das konnte doch nicht sein. Nicht schon wieder. Bitte, Gott, nicht noch mehr. Kein Mensch kann so viel ertragen. Ich bin am Ende. Das war's. Sie musste raus hier. Nachdenken. Sie sprang auf und stieß dabei Estelles Bürostuhl um. Er polterte rückwärts, ein Bild fiel von der Wand. C. J. lief los, schnappte sich im Wartezimmer ihre Tasche und stürmte hinaus. Hinter sich hörte sie gedämpfte Worte: «Was ist denn hier los, verdammt, Estelle?», dann ging die Tür zum Gang auf, doch sie war schon weg. Sie riss an der schweren, gusseisernen Klinke und rannte vorbei an den gelb–weiß–roten Blumenbeeten über den Backsteinweg zur Straße. Fort von dem hübschen spanischen Haus auf der Almeria Street im hübschen, sicheren Vorort Coral Gables. Nur weg von dem netten, verständnisvollen Arzt, an den sie sich zehn Jahre lang gewendet hatte, wenn sie Hilfe brauchte, um im Leben zurechtzukommen. Rat, um mit ihren lähmenden Angstzuständen fertig zu werden. Nun floh sie vor ihm, so schnell sie nur konnte. Sie stieg in den Jeep und raste los. Im letzten Moment konnte ein Radfahrer ihr ausweichen; er schrie ihr einen Schwall Flüche hinterher.
Sie war bereits die Almeria Street hinunter verschwunden, in Richtung Dolphin Expressway, als Dr. Chambers ins leere Wartezimmer kam, um nachzusehen, was den Krach verursacht hatte.
79.
«Der erste Schnitt wurde am oberen Ende des Brustbeins begonnen und dann parallel zum Sternum ausgeführt, bis zum Nabel hinunter. Er war sauber, glatt, ohne weitere Hautverletzungen.»
Joe Neilson zuckte unwillkürlich, während er die Schnitte an der Schaufensterpuppe demonstrierte, die man vor den Geschworenen aufgestellt hatte. Der Laserpointer in seiner Hand hüpfte nervös mit.
«Der zweite Schnitt wurde horizontal unterhalb des Thorax angesetzt, beginnend genau unter der rechten Brust, und dann waagerecht rüber, bis unter die linke Brust. Auch hier nur ein einziger, präzise ausgeführter Schnitt.»
«Können Sie daraus schließen, von was für einem Instrument die Schnitte wahrscheinlich stammen?», fragte C.J. Im Gerichtssaal war es mucksmäuschenstill. Gebannt warteten die Zuschauer auf jedes einzelne Wort.
«Ja, das kann ich. Es war ein Skalpell. Die Schnitte sind tief. Sie gehen bis auf den Knochen, durch drei Schichten, Haut, Fettgewebe und Muskel. Es sind keine Risse oder Auszackungen vorhanden. Wir haben das Fünfer–Skalpell, das in der Wohnung des Angeklagten sichergestellt wurde, mit den Einschnitten in Anna Prados Brust verglichen. Breite und Tiefe der Schnitte stimmen mit dem Instrument genau überein. Sie sind identisch.»
Zwei vergrößerte Fotografien waren auf Staffeleien neben der Schaufensterpuppe aufgestellt. Auf einer war das Skalpell aus Bantlings Gartenhäuschen zu sehen, in fünfzigfacher Vergrößerung. Auf dem anderen eine Nahaufnahme des Einschnitts in Anna Prados Brust, ebenfalls fünfzigfach vergrößert.
«Nach den Inzisionen wurde das Brustbein, das die Thoraxwand verstärkt und Herz und Lungen schützt, aufgebrochen und der Brustkorb auseinander gespreizt.»
«Können Sie sagen, mit was für einem Werkzeug das Brustbein aufgebrochen wurde?»
«Nicht mit Sicherheit. Wahrscheinlich aber mit einem Bolzenschneider.»
«War Anna Prado zu diesem Zeitpunkt noch am Leben?»
«Ja. Der Tod tritt ein, wenn das Herz aufhört zu schlagen. In dem Moment werden alle anderen Körperfunktionen eingestellt, die Atmung und so weiter. Beim Exitus kommt alles zum Stillstand. Deswegen können wir feststellen, was jemand
Weitere Kostenlose Bücher