Cupido #1
Aufmerksamkeit auf sich. Sie war eine graue Maus, ein Niemand. Alles an ihr war nichts sagend, sogar ihr Name.
C. J. wusste: Es war seine Stimme. Sie hatte sie sofort wieder erkannt. Nach zwölf langen Jahren hörte sie sie immer noch in ihren Albträumen, den gleichen heiseren, kehligen Bariton mit dem Anflug eines britischen Akzents.
C. J. war sich sicher, sie bildete sich das nicht ein. Wie ein Sägemesser schnitt der Klang durch ihr Hirn, und in ihrem Kopf hatte eine innere Sirene aufgeheult, dass sie am liebsten auf ihn gezeigt und laut geschrien hätte: «Das ist er! Das ist der Mann! Hilfe! Haltet ihn!»
Doch sie hatte sich nicht bewegt. Hatte sich – wie damals – nicht rühren können. Sie war wie gelähmt gewesen, als spielte sich die Szene im Gerichtssaal auf einem Fernsehbildschirm ab. Zu Hause auf der Couch konnte man die Schauspieler wenigstens anbrüllen: Mach doch was, steh nicht einfach rum! Selbst wenn sie es nicht hörten, die Szene weiterlief und das nächste rehäugige Opfer von dem Irren mit dem Hackebeil abgeschlachtet wurde.
Beim Klang dieser Stimme hatte ihr jedes einzelne Härchen am Körper zu Berge gestanden, sie hatte eine Gänsehaut bekommen –und im selben Moment hatte sie gewusst, dass er es war. Zwölf Jahre waren vergangen, doch ein Teil von ihr hatte immer geahnt, dass sie diese Stimme eines Tages wieder hören würde, und die ganze Zeit hatte sie darauf gewartet. Die Zickzacknarbe an seinem linken Handgelenk war nur die letzte Bestätigung gewesen.
Er jedoch schien sie nicht wieder zu erkennen. Nach allem, was er ihr angetan hatte, ihr genommen hatte, war es fast schon komisch, wie er sie keines Blickes würdigte, ihre Anwesenheit im Gerichtssaal ignorierte. Sie hatte sich wohl vollkommen verändert seit damals, seit jener Ewigkeit, war ein schwacher Schatten ihres früheren Selbst. Die Frau im Spiegel versuchte die Tränen zurückzuhalten. Manchmal erkannte sie sich selbst nicht mehr.
Auch wenn Jahre vergangen waren seit jener fürchterlichen Nacht – in ihrem Fall hatte die Zeit die Wunden nicht geheilt und auch die Erinnerung nicht verblassen lassen. Jede Minute, jede Sekunde, jedes Detail, jedes Wort jener Stunden war ihr immer noch präsent. Auch wenn sie, äußerlich zumindest, mit ihrem Leben vorangekommen war – es gab Dinge, die sie nicht überwinden konnte, egal wie sehr sie sich bemühte; und noch heute war es manchmal ein wahrer Kraftakt, einfach nur durch den Tag zu kommen. Damals, in jener Nacht, hatte ihr altes Leben geendet, war ihr alles abhanden gekommen, was Sicherheit und Schutz bedeutete. Es waren nicht so sehr die körperlichen Narben, die waren verblasst. Aber da war die ständige Angst. C. J. hasste es, damit leben zu müssen. Sie konnte nicht einfach mit ihrem Leben weitermachen, die Vergangenheit hinter sich lassen. Es war, als wäre sie im Leerlauf stecken geblieben und fürchtete sich einerseits vor der Vergangenheit und andrerseits vor der Zukunft. Sie wusste, dass genau das ihre Beziehungen zerstörte, aber sie konnte nichts dagegen machen; sie trug noch immer das gleiche schwere Gepäck mit sich herum, das sie vor Jahren bei dem überteuerten Psychiater in New York hätte abgeben sollen.
Nach einem Nervenzusammenbruch und zwei Jahren intensiver Therapie musste sie der Tatsache ins Auge sehen, vor der sie sich die ganze Zeit gefürchtet hatte: Selbstbestimmtheit war eine Illusion. Es gab sie einfach nicht. In jener Nacht hatte sie die Kontrolle über ihr Leben verloren, und dann hatte sie zwei Jahre gebraucht, um festzustellen, dass sie sie wahrscheinlich nie gehabt hatte. Das Leben war nur eine Laune des Schicksals, und das war auch die Erklärung dafür, warum manche Leute auf dem Rückweg von einer Beerdigung vom Bus überfahren wurden und andere zweimal im Lotto gewannen. Man konnte nur versuchen, dem Bus auszuweichen, indem man dunkle Gassen mied.
Sie dachte daran, wie Michael jene Nacht immer als den Vorfall bezeichnet hatte. Michael, ihr charakterloser Freund, der sich schließlich mit seiner dünnen, rothaarigen Sekretärin verlobt hatte. Nachdem C. J. zusammengeklappt war, hatte er versprochen, ihr die Zeit und den Raum zu geben, die sie brauchte, um wieder auf die Beine zu kommen. Er hatte ewig warten wollen, wenn es ihr nur half, die Sache durchzustehen. Doch anscheinend war ewig eine sehr lange Zeit, und so hatte er schon in der Woche darauf die kleine Rothaarige ins Tavern on the Green im Central Park zum Essen ausgeführt.
Weitere Kostenlose Bücher