Cupido #1
Sechs Monate später waren sie verheiratet gewesen. Seitdem hatte C. J. nichts mehr von ihm gehört. Ein paar Jahre darauf hatte sie in einem kleinen Artikel im Wall Street Journal von ihrer Scheidung gelesen; die kleine Rothaarige war inzwischen eine üppige Blondine geworden und hatte Michael auf sein ganzes, inzwischen beträchtliches Vermögen verklagt.
Doch das Schlimmste an den letzten zwölf Jahren war die Unge–wissheit. Dass sie nicht wusste, wer ihr Vergewaltiger war – und wo er war. Angst war ihr ständiger Begleiter, und sie ließ sich nie abschütteln. War er in der gleichen U–Bahn? Im Lokal? Auf der Bank? Stand er auf der Rolltreppe oder in der Schlange im Supermarkt? War er ihr Arzt, ihr Steuerberater, ihr Freund?
Ich werde immer in deiner Nähe sein, Chloe. Dich beobachten. Warten.
In New York hatte sie diesem Gedanken nicht entfliehen können, und so hatte sie nach zwei Jahren beschlossen, dass sie es auch nicht länger versuchen würde. Sie ließ ihren Namen ändern, machte die Anwaltsprüfung in Florida und zog nach Miami. Die Anonymität half ihr, nachts besser zu schlafen, wenn sie denn überhaupt einmal schlief. Vielleicht, dachte sie, würde die Laufbahn als Staatsanwältin ihr ein wenig Kontrolle zurückgeben – in dieser verrückten Welt voller Sinnlosigkeit, Chaos und Wahnsinniger. Vielleicht könnte sie so etwas tun für die Machtlosen, für die, denen die Illusionen gerade erst verloren gegangen waren.
Bilder jener Nacht schossen ihr durch den Kopf, blitzten auf wie im Stroboskoplicht. Doch jetzt hatte er ein Gesicht. Und mit dem Gesicht einen Namen. Sie musste Ruhe bewahren und überlegen, was zu tun war. Sollte sie Jerry Tigler, dem Oberstaatsanwalt, alles erzählen? Sollte sie die alten Ermittler in New York, Sears und Harrison, anrufen? Sollte sie der Sonderkommission davon berichten? Kein Mensch in Miami, mit Ausnahme ihres Therapeuten, kannte ihre Vergangenheit, wusste von dem Vorfall.
Geh vor wie in jedem anderen Fall auch.
Sie atmete tief durch. Als Erstes musste sie herausbekommen, ob Bantling irgendwo aktenkundig war, und sich in New York nach den «Auslieferungsbestimmungen» erkundigen. Sie würde den damaligen Polizeibericht zu ihrem Fall hinzuziehen. Bantling war nicht auf Kaution freigekommen; er würde in Hochsicherheitsgewahrsam sitzen, bis in frühestens vierzehn Tagen ein Termin für das so genannte Arthur Hearing festgesetzt wurde. In dieser Anhörung würde der Richter die Zeugen vernehmen, um festzustellen, ob «die Beweislage eindeutig und der Verdacht begründet war», dass Bantling einen Mord begangen hatte.
Wenn diese Frage mit Ja beantwortet wurde, würde der Richter die Freilassung auf Kaution abermals verweigern, und Bantling musste, ganz gleich, wann der Prozess stattfand, bis zu diesem in U–Haft sitzen. Er kam also fürs Erste garantiert nicht raus.
Sie musste gründlich und logisch nachdenken. Musste sich Zeit nehmen. Er durfte ihr nicht durch die Lappen gehen. Wenn man sie je dafür zur Rede stellte, dass sie bei Gericht, bei den Ermittlungen nicht aufrichtig gewesen sei, konnte sie immer noch sagen, sie sei sich anfangs nicht sicher gewesen, ob er es wirklich sei ...
D ie Tür zur Damentoilette wurde aufgerissen, und hastig setzte C. J. die Brille wieder auf. Es war ausgerechnet Marisol in Begleitung einer anderen Sekretärin. In einer Hand trug sie ein rosa glitzerndes Kosmetiktäschchen und eine Dose Haarspray in der anderen.
«Hallo, Marisol.» C. J. zog sich das Jackett glatt und hob die Aktentasche auf. «Ich bin vom Gericht zurück, wie Sie sehen, aber ich habe noch eine Menge zu erledigen. Bitte halten Sie mir die Anrufe vom Leib. Vor allem die von der Presse.» C.J. merkte, dass ihre Stimme zitterte. Sie klemmte sich das Haar hinters Ohr und ging zur Tür. Dann drehte sie sich noch einmal um und fügte hinzu: «Ach, Marisol, bitte rufen Sie den Verteidiger im Jamie–Tucker–Fall an und versuchen Sie die Anhörung umzulegen. Jetzt, mit der Bantling–Sache, brauche ich noch mindestens zwei Wochen. Ich glaube, der Termin war nächsten Mittwoch.»
Auf Marisols Gesicht spiegelte sich pure Entrüstung.
«Gibt es ein Problem?», fragte C.J.
«Nein. Schön. Wie Sie wollen.» Affektiert schlenderte Marisol zu den Waschbecken hinüber, die Hand abgewinkelt, und warf ihrer Freundin einen Blick zu, der besagte: Was bildet diese überspannte Schnepfe sich eigentlich ein?
C.J. verließ die Toiletten und ging den Flur hinunter zu ihrem
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