Cupido #1
auf einem einsamen Gelände. Auch wenn sie mit einer Skimaske vorgefahren wäre, auf der Rückbank ein Gewehr und einen Lageplan – Haus des Opfers: Die Beute ist hier –, er hätte sie trotzdem hereingewinkt.
Sie parkte auf ihrem Parkplatz in der Tiefgarage der Port Royale Towers und nahm den Fahrstuhl in den elften Stock. An der Wohnungstür begrüßte sie hungrig und empört miauend Tibby II; sein dicker weißer Bauch war ganz schmuddelig von den Wollmäusen, die er fing, wenn er über die Fliesen wischte.
«Schon gut, Tibby, einen Moment. Lass mich erst mal rein, dann kriegst du ja dein Fressen.»
«Fressen» war Tibbys Lieblingswort, und so hielt er mit seinem kläglichen Gemaunze erst einmal inne. Er beobachtete mit der gelangweilten Neugier, die nur eine Katze zustande bringt, wie C. J. die Tür hinter sich abschloss und die Alarmeinlage einstellte; dann folgte er ihr in die Küche und rieb ein Vlies schwarzer und weißer Haare auf die Hosenbeine ihres frisch gereinigten Anzugs. Sie ließ die Akten und die Tasche auf den Küchentisch fallen und füllte Tibbys rote Schüssel mitBrekkies auf. Von dem Geruch wachte jetzt auch Lucy auf, C. J.s zehnjährige, schwerhörige Basset–Hündin. Sie hievte sich aus ihrem Körbchen und trottete schnüffelnd in die Kü che. Nach kurzem, glücklichem Gekläff kaute Lucy neben Tibby an ihrer Portion halb aufgeweichten Trockenfutters, und die Welt war in Ordnung. Wenigstens für die beiden. Die nächste schwere Entscheidung, die ihnen bevorstand, war, wo sie ihr Nickerchen fortsetzen sollten, im Schlaf oder im Wohnzimmer.
C. J. setzte sich einen Kaffee auf, suchte das Päckchen Marlboro, das sie auf dem Heimweg gekauft hatte, und ging ins Gästezimmer.
Im obersten Fach ihres Schranks, ganz hinten, unter dem Geschenkpapier, den Papiertüten, Schleifen und Schachteln, stand ein unscheinbarer Pappkarton. Sie warf die andern Dinge auf das Schlafsofa und zog den halb leeren Kasten heraus. Sein Inhalt raschelte. Dann setzte sie sich auf den Boden, holte tief Luft und nahm den Deckel ab.
Es war zehn Jahre her, dass sie zuletzt hineingesehen hatte. Der stockige Geruch nach altem Papier kam ihr entgegen. Sie nahm drei Papphefter und einen dicken gelben Umschlag heraus, holte sich aus der Küche Kaffee und Zigaretten und setzte sich mit allem auf den windgeschützten kleinen Balkon, der auf das funkelnde Blau des Intracoastal Waterway hinausging.
Sie starrte auf die Mappe, auf die handschriftlich POLIZEIBERICHTE geschrieben war. An das Deckblatt war die Visitenkarte von Detective Amy Harrison vom NYPD geheftet. Sie kaute an ihrem Bleistift, während sie überlegte, was sie sagen würde, wie sie es sagen würde. Gott, wie gerne hätte sie ein Drehbuch gehabt, an das sie sich halten könnte. Sie zündete sich eine Zigarette an und wählte die Nummer.
«Detective Bureau, Queens County.» Im Hintergrund herrschte ein enormer Geräuschpegel. Hektische, eilige Stimmen in verschiedenen Tonlagen, klingelnde Telefone, Sirenen, die in der Ferne heulten.
«Ich möchte bitte mit Detective Amy Harrison sprechen.»
«Mit wem?»
«Detective Amy Harrison, Sexualdelikte.» Es war schwer, das Wort über die Lippen zu bringen. Sexualdelikte. Seltsam eigentlich, denn sie hatte im Lauf ihrer Karriere problemlos Hunderte von Malen bei den Stellen für sexuellen Missbrauch eines jeden Police Departments im Süden Floridas angerufen.
«Bleiben Sie am Apparat.»
Dreißig Sekunden später meldete sich eine schroffe Stimme mit schwerem New Yorker Akzent. «Special Victims, Detective Sullivan.»
«Detective Amy Harrison, bitte.»
«Wer?»
«Amy Harrison, zuständig für die Sexualdelikte draußen in Bay–side, Einheit eins elf?»
«Hier gibt es keine Harrison. Wann soll das gewesen sein?»
Tief einatmen. Langsam ausatmen. «Vor ungefähr zwölf Jahren.»
Der schroffe New Yorker stieß einen Pfiff aus. «Zwölf Jahre, Jesus Christ. Es gibt hier niemand mehr, der so heißt. Warten Sie einen Moment.» Sie hörte, wie er die Hand über den Hörer legte und rief: «Kennt hier jemand Detective Amy Harrison? Hat vor zwölf Jahren für die Special Victims Unit gearbeitet.»
Jemand aus dem Hintergrund. «Ja – ich kannte Harrison. Hat aufgehört und das Department vor drei oder vier Jahren verlassen. Sie ist zur Michigan State Police gegangen, glaube ich. Wer fragt denn nach ihr?»
Der Schroffe wollte die Information weitergeben, aber C. J. unterbrach ihn. «Ich hab's gehört. Und wie steht es mit
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