Cupido #1
spürte.
Diesmal wich sie nicht vor ihm zurück. Stattdessen legte sie ihm zögernd die Hand in den Nacken und zog ihn noch näher heran. Ihre Fingerspitzen wanderten über seinen Rücken, ertasteten seine Muskeln durch das Hemd. Eine Welle von Gefühlen erfasste sie, die sie meinte für immer begraben zu haben. Der Augenblick überwältigte sie vollkommen.
Er spürte ihre heißen Tränen auf seiner Wange. Der Kuss endete abrupt. Sie hielt den Kopf gesenkt, beschämt. Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass er sie so sah. Aber dann nahm er ihr Gesicht in seine warme, raue Hand, hob ihr Kinn und sah ihr in die Augen. Wieder sah sie seine Besorgnis. Und als hätte er ihre Gedanken gelesen, flüsterte er: «Ich werde dir nicht wehtun, C. J. Niemals.» Sanft küsste er ihr die Tränen fort. «Und wir werden die Sache langsam angehen lassen. Ganz langsam.»
Dann küsste er sie noch einmal auf die Lippen, zärtlich, zurückhaltend. Und das erste Mal seit sehr langer Zeit fühlte sich C.J. sicher, hier, in den Armen dieses Mannes.
29.
Um sieben Uhr morgens saß sie mit einem Kaffee in der Hand am Schreibtisch und blätterte durch die Papiere, die sich an einem einzigen Nachmittag angehäuft hatten. Trotz des süßen Gutenachtkusses war der Schlaf in der letzten Nacht nicht ohne Träume zu ihr gekommen – furchtbare, blutgetränkte Träume. Die Clownmaske war fort – ersetzt durch das glatte, lächelnde Gesicht von William Rupert Bantling. Er lächelte sie strahlend an, während er ihr mit der Rolex–Hand die Haut in Fetzen schnitt. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie träumte, oder ob sie wach war und die Erinnerung ihr mit den quälenden Bildern nach Mitternacht noch eine Zugabe bescherte. Jedenfalls beschloss sie, als sie die Augen endlich öffnete, keinesfalls wieder einschlafen zu wollen. Um vier Uhr morgens setzte sie sich in ihr dünnes Laken eingewickelt auf den Balkon und sah zu, wie über Fort Lauderdale und Pompano Beach die Sonne aufging.
Nachdem Dominick gegangen war, hatte C. J. versucht, darüber nachzudenken, was sie in der Cupido–Sache tun wollte, tun müsste. Sollte sie Tigler über ihre Befangenheit unterrichten? Oder den Fall schweigend, ohne Erklärung, an einen Kollegen abgeben? Ein radikaler Gedanke schoss ihr immer wieder durch den Kopf, obwohl ihr klar war, dass diese Lösung eigentlich nicht in Frage kam: Sollte sie einfach weitermachen, ohne etwas zu sagen?
Wenn sie Tigler ins Vertrauen zog, müsste die ganze Staatsanwaltschaft von dem Fall zurücktreten und ihn an einen anderen Bezirk abgeben, der dann einen neuen Ankläger ernennen würde. Das wäre mehr als problematisch bei einem so komplexen Fall, bei dem sich alles in Miami abspielte. Das Team des Elften Bezirks war außerdem sehr viel erfahrener in Schwerverbrechen dieser Kategorie. In manchen der anderen Bezirke gab es überhaupt nur drei oder vier Ankläger, und noch nie war dort ein Serienmord vor Gericht gekommen. In diesen alten, traditionsreichen Bezirken in Florida galt Miami als Sündenpfuhl, als das schwarze Schaf. Keiner würde freiwillig einen Fuß hersetzen, geschweige denn gerne einen Fall hier bearbeiten.
C. J. hingegen war vertraut mit jedem einzelnen Mord. Sie war praktisch an jedem Fundort gewesen, hatte jede Leiche gesehen, die Angehörigen, Freunde, Liebhaber jedes Mädchens befragt, mit dem Gerichtsmediziner gesprochen, und sie hatte jede einzelne richterliche Verfügung beantragt. Sie hatte für diesen Fall ein Jahr lang gelebt, geatmet und gearbeitet. Keiner kannte die Fakten so gut wie sie, und sie bezweifelte auch, dass jemand anderes sich noch einmal so gut einarbeiten konnte.
Selbst wenn sie den Fall stillschweigend an einen Kollegen der Major Crimes Unit abtrat, gab es immer noch das Problem, dass der Neue nicht auf dem Laufenden war. Und sie müsste den Grund für ihr Handeln erklären. Warum sollte sie plötzlich den wichtigsten Fall ihrer Karriere abgeben wollen? Ein Fall, von dem jeder Strafverfolger nur träumen konnte? Ihr Verhalten würde mehr Fragen aufwerfen, als sie zu beantworten bereit war.
Was die letzte Möglichkeit anging, so könnte sie zumindest fürs Erste weitermachen. Sie würde schweigen, bis ohne den geringsten Schatten eines Zweifels feststand, dass es Bantling damals in Bayside gewesen war. Bis sie vollkommen sicher war. Sie musste ja noch mit McMillan vom Cold Case Squad in New York sprechen. Vielleicht hatte durch irgendeine seltsame Fügung in den
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