Curia
Achseln.
»Warum nennt ihr sie Herzogin?«
»Keiner weiß, wie sie heißt und woher sie kommt.« Er polierte ein Glas und prüfte es im Gegenlicht. »Sie redet wie eine gebildete Person, ganz ohne Dialekt, und benimmt sich wie eine Dame. Ein richtiges Geheimnis. Die schlimmsten Grobiane unter meinen Gästen – ein paar davon müsste man im Zoo einsperren – ziehen den Hut, wenn sie mit ihr reden.«
»Kommt sie jeden Tag hierher?«
»Sie kommt abends, manchmal auch am Spätnachmittag. Vor einer Stunde ist sie gegangen. Sie sitzt immer am selben Tisch.« Er zeigte auf eine Ecke am Fenster. »Die Leute stehen Schlange, um mit ihr zu sprechen.«
»Wo wohnt sie?«
Der Wirt zeigte aus dem Fenster. »Unter der Pont d’Austerlitz.«
Théo rieb sich den Nasenrücken. »Was trinkt die Herzogin?«
»Calvados. Aber wenn sie ein paar Euro hat, gönnt sie sich ein Glas Champagner Rosé.«
»Welcher ist der Beste, den Sie haben?«
»Der Krug. Warum?«
»Gegen Sie mir eine Flasche und zwei Gläser. Ich bezahle sie Ihnen.«
Der Wirt warf einen Blick auf die Uhr. »Tarot um ein Uhr nachts? Unter einer Brücke?«
»Wieso, ist das jetzt auch schon verboten?«
Eine Flasche Krug in der einen, zwei Gläser in der anderen Hand, stieg Théo im Regen eine Treppe hinunter und ging am Rand der Seine auf die Pont d’Austerlitz zu. Aus den erleuchteten Bullaugen eines am Kai liegenden Bootes ertönte ein Walzer von Strauß. In der Luft lag ein Geruch nach Moder und feuchtem Tauwerk. Am Fuß des ersten Brückenbogens flackerte eine Laterne.
Im Schein der Laterne tauchte das Profil einer Frau auf, die auf einem Treppenabsatz an eine Mauer gelehnt saß. Sie las im Licht der Petroleumlampe, über sich ein Wellblechdach.
» Bonsoir , Madame.« Théo hob die Flasche über das Geländer um den Treppenabsatz, das Regenwasser rann ihm übers Gesicht. »Darf ich Ihnen ein Glas Champagner Rosé anbieten?«
Das Flackern der Lampe beleuchtete himmelblaue Augen von ungewöhnlich starkem Glanz und Gesichtszüge, die ihn an die Ahnengalerien in Adelshäusern erinnerten.
» Bonsoir .« Die Frau ließ das Buch sinken. »Was suchst du hier um diese Zeit?«
Théo schielte nach dem Titel des Buches. Poèmes saturniens von Paul Verlaine. »Oben im Bistro hat man mir gesagt, Sie lesen Tarotkarten.«
»Lass das Sie. Das ist nichts für uns Clochards.«
»Darf ich?« Théo zeigte auf die Stufen, die zum Treppenabsatz hinaufführten.
»Komm ruhig. Kümmere dich nicht um die Unordnung. Das Zimmermädchen hat Ausgang, die Wohnung ist nicht aufgeräumt.«
Théo dachte an die Worte des Wirts. Wenn er einen Hut tragen würde, hätte er ihn jetzt auch gezogen. Er setzte sich, entkorkte die Flasche und füllte die Gläser.
»Du siehst nicht aus wie einer, der an die Karten glaubt.« Die Herzogin musterte Théo. »Warum bist du gekommen?«
»Aus Neugier.« Théo kratzte sich lachend am Kinn. »Ich habe einen Freund, Jean Paul, der …«
»Die Tarotkarten sind dazu da, in sich selbst hineinzuschauen, Jean Paul. Warum denkt ihr Männer immer, Gefühle seien schlimmer als die Pest? Kannst du mir das erklären?«
Théo seufzte und strich sich über den Hals. »Na gut. Seit ein paar Wochen habe ich einen Traum, der immer wiederkehrt. Immer derselbe. Ich träume, dass ich mich in einem Labyrinth aus Spiegeln verirre …«
Das Trommeln des Regens auf dem Blechdach begleitete seine Worte.
»Was willst du wissen? Die Bedeutung?«
»Mehr. Ich bin sicher, dass der Traum mir etwas zu sagen versucht. Etwas, was ich tun oder nicht tun soll. Ich wache in dem Moment auf, in dem dieser Schlüssel im Meer versinkt, mein Herz klopft zum Zerspringen, und ich habe das Gefühl, dass die Lichter für immer ausgehen. Und dabei habe ich Angst vor der Dunkelheit.«
Die Herzogin reichte Théo ihr leeres Glas, und er füllte es erneut. »Ein Detail ist mir unklar: diese Statuette von Echnaton, mit der du den Spiegel zerschlägst.« Sie trank einen Schluck. »Was bist du von Beruf? Archäologe?«
Théo sah sie verblüfft an. »Ja … ich bin Archäologe.«
Der Blick der Herzogin verlor sich auf den Lichtstreifen über der Seine. »Der Traum sagt, dass du zwei Dinge suchst, etwas außerhalb von dir und etwas in dir. Ich frage mich, ob es nicht ein und dasselbe ist. Ein Geheimnis, das mit Echnaton zu tun hat … Etwas, was dich seit Langem schon fasziniert und verfolgt.«
Die Herzogin verschwand hinter einem Plastikvorhang, der vor einem Hohlraum hing. Ein zerwühltes
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