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Curia

Curia

Titel: Curia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oscar Caplan
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was der Lebenskünstler Hemingway mal gesagt hat?«
    Das Bild der Waage des Osiris-Gerichts schob sich vor die Erinnerung. Nach den zweiundvierzig Fragen, die der Verstorbene beantworten musste, bevor sein Herz gewogen wurde, stellte Osiris ihm zwei entscheidende Fragen: »Hast du Freude empfunden?« und »Hast du Freude bereitet?« War die Antwort verneinend oder unsicher, verschlang ein Nilpferd das ka des Verstorbenen. Théo schluckte. Spyros ka würde kein Nilpferd verschlingen.
    Konstantines Gesicht verschwand, und zwischen den Flammen eines Lagerfeuers tauchten die von einem dichten Bart umrahmten, sonnenverbrannten Züge von Khalid Shouman auf. Wie sehr er und Spyro einander doch glichen, das war Théo bisher noch gar nicht aufgefallen.
    Khalid hatte ihm für alle seine Ausgrabungen fellahin besorgt und angeleitet. Er war der beste Vorarbeiter, den Théo sich denken konnte. Hatte er darum immer so getan, als sähe er die »Souvenirs« nicht, die Khalid sich unter den Fundstücken aussuchte und in die eigene Tasche steckte? Nein, das hatte einen anderen Grund. Außer Clea war Khalid der einzige Mensch, mit dem er nicht viel Worte machen musste. Ein Blick genügte. Sie akzeptierten einander so, wie sie waren, und sie hatten sich stillschweigend darüber verständigt, dass Perfektion langweilig, ja unsympathisch war.
    Théo hatte nie für andere Geige gespielt, außer für seine Familie und für Clea. Eines Nachts waren er und Khalid lange aufgeblieben, um an einem Lagerfeuer im Sinai zu plaudern. Irgendwann war er ins Zelt gegangen und mit der Jaeger zurückgekehrt. Er hatte das Andante einer Violinsonate von Brahms gespielt. Als er fertig war, hatte Khalid begeistert applaudiert, war aufgesprungen und hatte mit seiner schönen Tenorstimme ein ägyptisches Lied gesungen; dann hatte er angefangen, mit synkopierten Bewegungen um das Feuer herumzutanzen, und sich mit der ney begleitet, der arabischen Flöte, die er sehr gut spielte. Dabei hatte er den Komödianten herausgekehrt, der er war, und Théo hatte seine Bewegungen nachgeahmt, bis das Ganze in einem großen gemeinsamen Gelächter endete. Schließlich hatte Théo ihn untergehakt und ihm die Schritte des Syrtos beigebracht.
    »Mütterlicherseits bin ich ein halber Saudi«, hatte Khalid an jenem Abend vor dem Feuer gesagt. Die Verwandten seiner Mutter lebten noch in Saudi-Arabien, sie gehörten zu einem wichtigen Beduinenclan, der nie aufgehört hatte, in Zelten in der Wüste zu leben. Er war oft bei ihnen zu Gast. Khalid kannte das Land gut, er besaß einen saudischen Pass. In Kairo leitete seine Familie eine Agentur, die Safaris auf die Sinaihalbinsel organisierte. Khalid war auf dem Sinai so zu Hause wie im Tal der Könige.
    Théo setzte sich im Bett auf und wählte seine Nummer.
    »Théo, mein Freund!«, sagte Khalid. »Dein Anruf ist ein Zeichen für Allahs Wohlwollen.«
    »Hast du in den kommenden Wochen irgendwelche Ausgrabungen im Programm?«, fragte Théo nach den üblichen Begrüßungsformeln.
    »Nein, es ist die tote Jahreszeit. Alles, was mich erwartet, ist eine Reihe sterbenslangweiliger Safaris im Sinai. Warum, hast du etwas im Auge?«
    Théo fasste ihm die Geschichte auf das Wesentliche beschränkt zusammen. Ein langes Schweigen folgte.
    »Khalid …? Nicht mal der Verwaltungsrat des Louvre lässt mich so lange warten.«
    »Allahs Wohlwollen ist groß, doch auch sein Zorn ist groß. Moses ist ein Prophet des Koran, Théo.«
    Théo kannte das alte Schlitzohr gut genug, um sich von seinen Koranzitaten nicht beeindrucken zu lassen. Khalid praktizierte seinen ganz privaten Islam und pflegte das aus dem Koran zu zitieren, was ihm gerade nützte.
    »Weißt du noch, als du mich mal nach dem Schatz auf der Kupferrolle gefragt hast?«, begann Théo.
    »Du willst doch nicht etwa sagen, dass …«
    »Genau das will ich sagen.«
    »Deine Worte sind für mich wie die Musik deiner Geige. Wenn ich es recht bedenke, liebt Allah die Wagemutigen, und sein Erbarmen ist größer als sein Zorn.«
    »Dann ist ja alles in Ordnung. Kann dich jemand bei deinen Safaris ersetzen?«
    »Mein Cousin Asim schuldet mir viele Gefälligkeiten. Die Nächte im Sinai sind hell, und ich leide unter Schlaflosigkeit. Oft schon sah ich ihn ins falsche Zelt schleichen, und seine Gemahlin ist sehr eifersüchtig.«
    »Ausgezeichnet.« Er besprach mit Khalid die notwendige Ausrüstung für die Expedition. »Ach, ehe ich es vergesse. Wir brauchen auch einen elektronischen Theodoliten und

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