Curia
Sonnensymbol. Warum fand sich dasselbe Motiv auf dem Aton-Symbol dieses Tuchs und dem des Medaillons? Und warum zeigte der Scheich ihnen das Tuch überhaupt?
»Was besagt die Inschrift?«, fragte Théo.
»›Zum Andenken an denjenigen, dessen Name nicht ausgesprochen werden darf, welcher im Wadi des Durchbohrten Felsens lebte‹.«
Derjenige, dessen Name nicht ausgesprochen werden darf. Echnaton. So musste Echnaton bezeichnet werden, nachdem Ay im Schutz der Regierung des jungen Tutanchamun die Macht übernommen hatte.
»Was ist das Wadi des Durchbohrten Felsens?«, fragte Théo.
»Er hat seinen Namen von einem Felsen, durch den ein ungewöhnlich regelmäßig geformter Stollen läuft.«
»Wo liegt dieser Felsen?«
Der Scheich zeigte auf die Karte der Oxford University Press. »Das Wadi auf dem Tuch ist das Wadi Hurab.«
Théo fühlte, wie das Blut hinter seinen Schläfen pochte. Also hatten Musil und Philby sich nicht geirrt. »Welche Verbindung besteht zwischen dem Wadi Hurab und Echnaton?«
»Direkt unter das Loch im Felsen hat jemand das Symbol Atons geritzt. Es sieht genauso aus wie das auf dem Tuch und dem Medaillon.«
»Mehr haben Sie nicht gefunden?«
»Monsieur St. Pierre, ich bin der Anführer eines Beduinenstamms, kein Leiter eines archäologischen Instituts.«
Sagte der Scheich die Wahrheit? Wenn er log oder etwas verbarg, warum hatte er ihnen dann das Tuch gezeigt? Und weshalb diese plötzliche Hilfsbereitschaft?
»Ist es möglich, das Wadi Hurab zu besichtigen? Morgen?«
»Das wollte ich Ihnen gerade vorschlagen. Wer weiß, vielleicht sehen Ihre Augen etwas, was unsere nicht gesehen haben.«
»Kommt man mit dem Auto dorthin?«
»Ja, es gibt eine Schotterstraße. Sorgen Sie sich nicht, ich werde Ihnen einen Führer mitgeben.«
»Vielen Dank, Scheich, aber das ist nicht nötig. Wir werden den Weg alleine finden.«
»Verlangen Sie etwa von mir, dass ich meine Pflichten als Gastgeber vernachlässige?«
Khalid räusperte sich und warf Théo einen Blick zu.
Théo setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf. »Wir nehmen das Angebot dankbar an.«
Der Scheich erhob sich. »Ich verlasse mich darauf, dass Sie mir heute die Ehre erweisen, mit mir und den Stammesältesten zu Abend zu speisen.«
»Die Ehre ist ganz auf unserer Seite.«
Kaum waren sie aus dem Zelt, blickte Khalid ihn böse an, warf sich auf die Knie, Augen und Arme zum Himmel erhoben.
»Barmherziger Allah, der du alles siehst und alles vermagst, wache über uns.« Den Kopf noch immer zum Himmel erhoben, zeigte er mit einem Finger auf Théo. »Auch über diesen Ungläubigen, obwohl er es nicht verdient, weil alles seine Schuld ist.«
Zurück bei ihren Zelten, setzten sie sich auf einen Palmstumpf und massierten sich die Beine, aus denen nach der langen Sitzung im Zelt des Scheichs das Blut gewichen war.
»Was meinst du, warum hat er uns das Tuch gezeigt?«, fragte Théo.
»Der Scheich ist überzeugt, dass du viel mehr weißt, als du ihm gesagt hast.« Khalid warf ihm einen listigen Blick zu. »Und auch mehr, als du mir gesagt hast. Ganz einfach. Er will es rauskriegen.«
»Warum?«
Khalid zündete sich eine Cleopatra an. »Das verstehe ich auch nicht.«
»Wie werden wir diesen Führer los?«
»Versuch das ja nicht. Denk daran, in welchem Ton der Scheich von seinen Gastgeberpflichten gesprochen hat.«
Théo rieb sich den Nasenrücken. »Dauert die Gastfreundschaft der Beduinen auch in Saudi-Arabien drei Tage, so wie im Sinai?«
»Ja. Warum, was hast du vor? Wieder einer deiner tollen Einfälle?«
»Heute ist Montag. Vor Donnerstagmorgen packen wir unsere Koffer und tun so, als würden wir nach Ägypten zurückkehren. Kaum sind wir hier raus, fahren wir nach Osten, nach Tabuk. Dort engagieren wir ein paar ortskundige Führer, dann kehren wir ins Wadi Hurab zurück und fangen an zu graben.«
»Graben? Wo denn?«
»Das müssen wir eben morgen rauskriegen.«
Khalid seufzte, verschwand in seinem Zelt und kehrte mit der Flöte zurück.
»Khalid, bitte. Nicht schon wieder eines deiner albernen Liedchen.«
»Keine Sorge!«, sagte Khalid mit schneidender Stimme. »Ich spiele Puccini, passend zu diesem Moment, und bete zu Allah, damit er uns ein Zeichen schickt. Aber du kannst das ja nicht verstehen, weil du an gar nichts glaubst!«
Théo bemühte sich, ernst zu bleiben. Khalids Verehrung für Giacomo Puccini war kaum geringer als die für Allah. Schlecht über Puccini zu sprechen war für ihn ebenso gravierend, wie über
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