Cut
werden konnte, der er war. Und doch – meine Analyse war in vielerlei Hinsicht furchtbar falsch gewesen. War das ein Zeichen? Vielleicht war ich nicht so großartig in meinem Beruf, wie ich geglaubt hatte.
Die Tage waren wieder kürzer und kühler geworden. Der Herbst hatte begonnen, das Laub an den Bäumen verfärbte sich. Braune Papierbeutel, vollgestopft mit Gartenabfällen, säumten die Gehwege in Winnona Park, wo meine Eltern wohnen. Die klare Luft war durchzogen mit dem Rauch von Kaminfeuer.
Mein Bruder Jimmy, der dem Drängen meiner Mutter, nach Hause zu kommen, jahrelang resolut widerstanden hatte, war zu Thanksgiving hergeflogen. Leider hatte er seinen Freund Paul nicht mitgebracht, den ich fast genauso liebe, wie Jimmy ihn liebt. Später am Tag wollte ich unbedingt mit ihm über Webcam sprechen.
Jimmy und Rauser hatten sich vor ein paar Jahren, als ichaus dem Entzug kam, kennengelernt und von Anfang an bestens verstanden. Heute dauerte es nicht lange, und die beiden saßen gemütlich im getäfelten Wohnzimmer meiner Eltern und schauten gemeinsam mit meinem Vater Football. Alle drei sind große Cowboy-Fans. Mutter, die seit unserem Eintreffen um Rauser und Jimmy herumscharwenzelte, versorgte sie mit Fleischbällchen und kaltem Bier, während sie das Abendessen vorbereitete.
Auch meine Cousine Miki kam zum Essen. Miki ist Fotojournalistin. Sie hat hellblondes Haar und blaue Augen, und genauso verschieden wie unser Äußeres sind die Welten, in denen wir leben. Sie ist die Tochter der Schwester meiner Mutter, Florence, und als Miki vor Jahren an Feiertagen plötzlich ohne ihre Mutter auftauchte, wurde uns gesagt, Tante Florence sei nach Europa gegangen. Später entdeckten wir, dass «Europa» nur ein Kodewort für «Klapsmühle» war. Seit Mikis zwölftem Lebensjahr war Tante Florence in einer psychiatrischen Anstalt. Ich erinnere mich, dass wir Tante Florence einmal zu Hause besuchten, bevor sie nach «Europa» ging. Im Garten stand ein Hausboot. Niemand redete darüber, jeder tat so, als wäre das vollkommen normal, doch ich weiß noch, wie Florence über die Rampe des gestrandeten Hausbootes herunterkam, um uns zu begrüßen, als würde sie darin wohnen. Jimmy schlich sich auf das Boot, als gerade niemand hinsah, und erzählte mir später, er hätte Kleiderständer und Schminksachen und Kaffeedosen voller Münzen entdeckt.
Die Arme meiner schönen und talentierten Cousine sind von den Handgelenken bis zu den Ellbogen vernarbt. Mit ungefähr siebzehn hat sie den Kampf gegen ihren Körper begonnen. Schnitte, Anstaltsaufenthalte, Drogen, Essstörungen und jahrelange Fehldiagnosen folgten. Jetzt ist sie fünfunddreißig, und ich weiß überhaupt nichts über ihr Leben, aber ich binunglaublich froh, dass in unseren Adern nicht das gleiche Blut fließt. Ich bin selbst verrückt genug. Doch glücklicherweise fehlt es mir entweder an Tiefe oder an Geduld für langfristige Depressionen.
Am späten Nachmittag versammelten wir uns im Esszimmer. Obwohl die hohe Decke, die Türbögen und die Wände im Lauf der Jahre unzählige Male gestrichen und verschönert worden sind, fühle ich mich in dem Zimmer immer in meine Kindheit zurückversetzt. Die Wände sind blassgelb, der Tisch und die Stühle aus Eiche, und in der Ecke steht der Schrank mit dem Porzellan. Meine Mutter hat einen eher altbackenen Geschmack. Den Tisch hatte sie an beiden Enden ausgezogen, damit das ganze Essen Platz hatte. Bevor wir uns hinsetzten, nahmen wir uns zum Gebet an die Hand, wie es in meiner blütenweißen, baptistischen Südstaatenfamilie Tradition ist. «Wir danken dir, Herr», begann mein Vater, «für das viele gute Essen und, äh, dafür, dass Miki und Keye, die sich beinahe mit Drogen und Alkohol umgebracht hätten, bei uns sind.»
Ich riss die Augen auf. Mein Vater hatte den Kopf gesenkt und kniff die Augen zusammen. Jimmy räusperte sich, um ein Lachen zu unterdrücken. Miki sah mich an. Sie grinste.
«Um Himmels willen, Howard!», sagte mein Mutter scharf.
«Und ich danke dir, Herr», fuhr Dad fort, «für meine noch immer schöne Frau und meinen schwulen Sohn.»
Jetzt hob jeder den Kopf.
«Amen», sagte Rauser laut und bestimmt und setzte sich.
«Amen», wiederholten wir anderen schnell und nahmen auch Platz.
«Höchst interessant», meinte meine Mutter und warf Dad einen bösen Blick zu. «Möchte jemand Kartoffeln?»
Auf dem Tisch stand eine riesige Schüssel Kartoffelbrei mit Knoblauch, dazu gab es geschmorte grüne
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