CyberCrime
lieber Gott, hier sieht es ja aus«, sagte der Polizist.
Detlef erklärte, seine Eltern seien in Urlaub. »Das ist nicht zu übersehen«, murmelte Eißmann vor sich hin.
Dann verfielen der Polizist und seine Untergebenen für zehn Minuten in tiefes Schweigen. Das einzige Geräusch kam von Detlefs klappernden Zähnen. Die Haustür stand immer noch offen, und nach seinem kurzen Ausflug in den Regen sank seine Körpertemperatur. Von oben kam ein aufgeregter Ausruf: »Die Computer laufen noch!«
Endlich dämmerte Detlef, worum es hier ging. Geistesgegenwärtig fragte er den Beamten, ob er sich etwas anziehen dürfe. Es war keine ausschließlich arglistige Frage – er fror entsetzlich. Eißmann zögerte. In Ordnung, stimmte er zu, es sei zwar gegen die Vorschriften, aber der junge Mann könne sich anziehen.
Als er nach oben ging, hatte Detlef nur einen Gedanken im Kopf: »Den Computer ausschalten! Ausschalten! Ausschalten!« Detlef wusste, dass die Polizei sein Passwort nicht kannte; wenn er also den Computer außer Betrieb setzte, gab es keine Beweise. So lange sie sein Passwort nicht hatten, dachte er, hatten sie gar nichts.
In Detlefs Zimmer stand Eißmanns Kollege vor dem Computer, die Hände erhoben wie ein Torwart, um den Rechner vor jedem Zugriff zu schützen. Als Detlef sich in ein T-Shirt zwängte, stolperte er. Er bekam das Netzkabel zu fassen und riss es aus der Steckdose. Das Summen erstarb. »Scheiße, Scheiße!«, schrie der Beamte. »Der Computer ist aus!« Eißmann stürmte ins Zimmer. »Okay, das war’s«, sagte er. »Es reicht – das was für lange Zeit das Letzte, was du getan hast.« Er zerrte Detlef die Treppe hinunter in die Küche und hielt ihm ein Blatt Papier mit einer Menge Amtsdeutsch hin. Das Einzige, woran Detlef sich heute noch erinnert, ist eine handgeschriebene Notiz: »Verdacht auf Gründung einer kriminellen Vereinigung«.
Obwohl Eißmann wütend war, erlaubte er Detlef, kurz mit seinem Bruder zu sprechen. Detlef sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen, alles werde gut. Sein Bruder erwiderte nichts, sah ihn aber an, als sei er völlig meschugge. Bevor Eißmann ihn aus dem Haus stieß, fragte er Detlef noch, ob er irgendetwas mitnehmen wolle. »Können Sie mir eine Empfehlung geben, was ich brauchen könnte?«, fragte Detlef ein wenig benommen zurück. »So etwas ist mir noch nie passiert.«
Während er auf dem Weg zum Polizeirevier aus dem Autofenster blickte, gingen seine Gedanken wieder zu den beiden E-Mails, die er vor ein paar Wochen erhalten hatte. Was hatte er sich denn gedacht? Warum hatte er darauf nicht reagiert? Aber sosehr er sich auch das Gehirn zermarterte, ihm war eigentlich nicht ganz klar, was er verbrochen haben könnte. Er war kein hartgesottener Krimineller, dem Verstecke und ein Mafia-Netzwerk zur Verfügung standen. Er war nur ein junger und ziemlich naiver Schüler. Was eine kriminelle Vereinigung ist, begriff er nur undeutlich, ganz zu schweigen davon, dass er zu einer gehören sollte.
Über all das grübelte Detlef immer noch, als der Polizeiwagen vor einem großen weißen Gebäude hielt. Es stand am Ende der Asperger Straße im Stuttgarter Stadtteil Stammheim. Hätte er zu einem der oberen Fenster hinaufgeblickt, hätte er die Zelle gesehen, in der Ulrike Meinhof, in den 1970er Jahren die Anführerin der linksterroristischen RAF , sich 1976 erhängt hatte.
Später wurde die Justizvollzugsanstalt in Stammheim zu einem reinen Männergefängnis umgebaut. Aber Detlef wurde von einer Beamtin dorthin gebracht. Als die Häftlinge sie sahen, schrien sie aus ihren Zellen Obszönitäten darüber, was sie am liebsten mit ihr machen würden.
Detlefs Angst vor seinen neuen Lebensumständen wuchs mit jedem Schritt. Wie konnte ein anständiger Junge aus der Mittelschicht in eine solche Situation kommen? Er hatte das Gymnasium mit ausgezeichneten Noten abgeschlossen und bereitete sich gerade auf die Universität vor. Seine Eltern liebten ihn über alles und waren dankbar, weil er bei der Versorgung seiner drei jüngeren Geschwister half. Und jetzt saß der harmlose Junge aus Eislingen in Stammheim, in der berüchtigsten Justizvollzugsanstalt Deutschlands. Nachdem die Wärter ihn ausgezogen und durchsucht hatten, gaben sie ihm zu große Gefängniskleidung, aber keine Schuhe. Sein neuer Pyjama war so groß, dass er ihn an eine Anglerhose erinnerte. Er bekam auch etwas zu essen, aber er hatte immer noch nicht ganz begriffen, dass er hierbleiben musste. Er befand
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