Cyberspace
Blut fand er sich nicht imstande, ihr die kleine Freude zu verwehren, »Ein mitternächtliches Rendezvous im Museum, Valentina? Wie romantisch.«
Sie küßte ihn, wacklig schwebend, auf die Wange. »Danke, lieber Korolew.«
»Du bist ein Schatz, Korolew«, bemerkte Romanenko und klopfte ihm so behutsam wie möglich auf die zaundürre Schulter. Nach zahllosen Stunden an der Kraftmaschine strotzten seine Arme von Muskeln.
Korolew verfolgte, wie sich das Pärchen vorsichtig ins kugelförmige Zentraldock vorarbeitete, wo die drei gealterten Saljuts und die beiden Korridore aneinandergekoppelt waren. Romanenko nahm den »Nord«-Korridor zum Kanonenboot, während Valentina entgegengesetzt zur nächsten
Gelenkkugel mit der Saljut, in der ihr Mann schlief, verschwand.
Es gab fünf kugelförmige Docks in Kosmograd, an die jeweils drei Saljuts gekoppelt waren. An den entgegengesetzten Enden des Komplexes befanden sich die militärischen Einrichtungen und die Satelliten-Starter. Die brummende, surrende, pfeifende Station hatte die Geräuschkulisse einer U-Bahn und den modrigen, metallischen Gestank eines Trampdampfers.
Korolew saugte wieder am Fläschchen. Nun war es halb leer. Er versteckte es in einem der
Museumsexponate, einer NASA-Hasselblad, die am Apollo-Landeplatz gefunden worden war.
Seit seinem letzten Urlaub hatte er keinen Schnaps mehr getrunken, und das war vor dem Platzer gewesen. Ein schöner, schmerzlicher Taumel machte sich breit in seinem Kopf, berauschte
Nostalgie.
Nachdem er zu seiner Console geschwebt war, sichtete er einen Speicherabschnitt, wo die
Gesammelten Reden von Alexei Kossygin insgeheim gelöscht und ersetzt worden waren durch
eine persönliche 6DPLVGDWDSammlung von digitaler Pop Music, den Lieblingsnummern aus den Achtzigern. Er hatte britische Gruppen von einem westdeutschen Sender mitgeschnitten, Heavy Metal aus dem Warschauer Pakt, amerikanische Schwarzmarkt-Importe. Während er sich die
Kopfhörer überzog, ließ er tschechoslowakischen Reggae von Brygada Cryzis anlaufen.
Nach all den Jahren hörte er die Musik gar nicht mehr richtig, sondern erging sich in wehmütigen Erinnerungen. In den Achtzigern war er das langhaarige Kind der sowjetischen Elite gewesen, das die Stellung des Vaters vor dem Zugriff der Moskauer Polizei bewahrte. Er erinnerte sich an die dröhnenden Lautsprecher in einem finsteren Kellerlokal, wo ein zwielichtiges Volk mit Denimjeans und blondierten Haaren verkehrte. Er hatte Marlboros geraucht, die mit pulver-isiertem afghanischen Hasch durchsetzt waren. Er erinnerte sich an den Mund einer
amerikanischen Diplomatentochter im Fond des väterlichen schwarzen Lincoln. Namen und
Gesichter tauchten im warmen Cognac-Dunst vor ihm auf. Nina, die Ostdeutsche, die ihm ihre vervielfältigten Übersetzungen polnischer Dissidentenblätter gezeigt hatte ...
Bis sie an jenem Abend nicht im Cafe auftauchte. Getuschel von parasitären Umtrieben, anti-sowjetischen Aktivitäten, vom lauernden chemischen Grauen der 3VLNXVND
Korolew fing an zu zittern. Er wischte sich übers Gesicht, das mit einemmal schweißnaß war. Er zog die Kopfhörer ab.
Es war schon fünfzig Jahre her, und dennoch überkam ihn plötzlich nackte Angst. So hatte er sich noch nie gefürchtet, nicht mal beim Platzer, der ihm die Hüfte zertrümmerte. Er zitterte am ganzen Leib. Die Lichter. Die Lichter in der Saljut waren zu hell, aber er wollte nicht zu den Schaltern gehn. Eine simple Verrichtung, die er regelmäßig ausführte, aber ... Die Schalter mit den isolierten Leitungen kamen ihm plötzlich bedrohlich vor. Er starrte verdutzt vor sich hin. Das kleine Aufziehmodell eines Lunokhod-Mondjeeps, das mit seinen Klettbandrändern an der
gekrümmten Wand haftete, lauerte scheinbar, zum Sprung geduckt. Die Augen der sowjetischen Weltraumpioniere in den offiziellen Porträts fixierten ihn verächtlich.
Der Cognac. Die vielen Jahre in der Schwerelosigkeit hatten seinen Metabolismus verdorben. Er war nicht mehr der alte. Aber er nahm sich vor, nicht in Panik zu geraten und die Sache
durchzustehen. Würde er das Handtuch schmeißen, lachten ihn alle aus.
Jemand klopfte am Museumseingang, und Nikita der Klempner, Kosmograds erster Techniker,
bugsierte sich mit einem tadellosen Hechtsprung in Zeitlupe durch die offene Luke. Der junge Ingenieur machte ein finsteres Gesicht, was Korolew Respekt einflößte. »Früh auf den Beinen, Klempner«, sagte er und wartete gespannt auf irgendein äußeres Zeichen der
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