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Cyrion

Cyrion

Titel: Cyrion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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lud zum Schlafen ein. Nur nahm Cyrion die Einladung nicht an.
    Ganz im Gegensatz zu seiner Behauptung war er ein leichter Schläfer. In der Stadt des Ungeheuers hatte er nicht vor, überhaupt zu schlafen. Ungestörtheit war etwas anderes. Nachdem er die Zimmertüre von innen verriegelt hatte, durchmaß er lautlos den Raum und prüfte ihn auf seine Möglichkeiten. Er drückte einen der Läden auf und spähte über die glühenden Dächer in den trockenen, grünen Palmenschatten der Gärten.
    Und dahinter lauerte schweigend die Stadt. Nachdenklich nahm Cyrion die Stimmung in sich auf. Sie glich einem einzigen, großen Herzen in der Atemlosigkeit zwischen einem Schlag und dem nächsten. Ein Herz oder zwei Kiefer, kurz vor dem Zuschnappen.
    »Cyrion«, sagte eine drängende Stimme.
    Ihn herumwirbeln zu sehen, verriet etwas von Cyrions wahrer Natur. In dieser Sekunde noch ein träger Müßiggänger am Fenster, in der nächsten eine aufschnellende Sprungfeder, das Schwert in der rechten Hand. Er hatte es schneller gezogen, als das Auge zu erfassen vermochte. Und atmete nicht einmal heftiger. Obwohl ein rascher Blick ihm zeigte, daß das Zimmer so leer war wie zuvor, ließ seine Wachsamkeit nicht um ein Jota nach.
    »Cyrion«, rief die Stimme wieder, scheinbar aus dem Nichts und Nirgendwo. »Ich flehe zum Himmel, daß du klug genug warst, sie anzulügen.«
    Cyrions Haltung schien sich zu entspannen. Schien.
    »Zweifellos freut sich der Himmel über dein Flehen«, meinte er. »Und werde ich mich über deinen Anblick freuen können?«
    Die Stimme war weiblich, ausdrucksvoll und sehr schön.
    »Ich bin in einem Gefängnis«, antwortete die Stimme mit einem kaum wahrnehmbaren Stocken. »Ich will dich warnen. Glaube ihnen nicht, Cyrion.«
    Cyrion bewegte sich durch das Zimmer. Beiläufig und vorsichtig schob er die Wandbehänge mit dem Schwert beiseite.
    »Sie haben mir ein Mädchen angeboten«, sagte er nachdenklich.
    »Aber von deinem sicheren Tod haben sie nichts gesagt.«
    Cyrion hatte seinen Rundgang beendet. Er fühlte sich aufs angenehmste unterhalten und amüsiert.
    Schließlich kniete er nieder und legte sich dann flach auf den Bauch. In dem Mosaikmuster des Fußbodens fehlte ein rundes Steinchen. Er legte ein Auge an die Öffnung und blickte in einen düsteren Raum, der nur von einer schwachen Lichtquelle außerhalb seines Gesichtskreises erleuchtet wurde. Genau unter ihm lag ausgestreckt ein Mädchen auf etwas Dunklem, das wohl ein Fußboden sein mußte, und starrte aus wilden, funkelnden Augen zu ihm hinauf. In dem Halbdunkel schien sie mehr eine Blüte aus Licht, denn ein lebendes Wesen zu sein, eine zitternde Gestalt aus weißem Kristall im Nichts. Ihre Haare waren wie die Goldketten in der Schatzkammer, ihr Gesicht wie das einer Göttin, ihr Körper wie der einer schönen, noch jungfräulichen Hure. Eiserne Ketten um Taille, Hand- und Fußgelenke fesselten sie an Pflöcke im Boden.
    »Hier also bist du.«
    »Es ist eine Besonderheit in der Bauweise, die es möglich machte, daß du mich hören konntest und ich dich. In früheren Tagen saßen Prinzen in deinem Zimmer da oben, tranken, genossen die Liebe und lauschten den Schreien derer, die hier unten gefoltert wurden, und manchmal schauten sie durch die Öffnung, um ihr Vergnügen noch zu erhöhen. Aber entweder hat Memled nicht daran gedacht oder glaubte, ich könnte schon nicht mehr rufen. Ich bemerkte deinen Schatten über dem Loch. Und vorher hatte der Kerkermeister deinen Namen genannt. O Cyrion, ich muß sterben und du mit mir.«
    Sie verstummte, und Tränen rannen wie silberne Tropfen aus ihren verzweifelten Augen.
    »Ihr habt ein interessiertes Publikum, edle Dame«, sagte Cyrion.
    »Es ist so«, flüsterte sie. »Das Ungeheuer, von dem sie vorgeben bedroht zu werden, ist in Wirklichkeit der Dämonengott dieser Stadt. Sie lieben diese Bestie und begehen alle Arten von Abscheulichkeiten in ihrem Namen. Wie sonst, glaubst du wohl, hätten sie solche Schätze anhäufen können, hier, in der Wildnis? Und einmal im Jahr ehren sie das Ungeheuer, indem sie ihm eine schöne Jungfrau und einen tapferen Krieger opfern. Ich war zur Braut eines reichen und weisen Fürsten einer Stadt am Meer bestimmt. Aber man hält mich für schön, und Memled hörte davon. Männer aus dieser Stadt griffen die Karawane an, mit der ich reiste, und brachten mich hierher, wo ich seit einem Monat schmachte. Dich hat ein grausames Schicksal hergeführt, wenn nicht Memleds Zauberei dich

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