Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Da gewöhnze dich dran

Da gewöhnze dich dran

Titel: Da gewöhnze dich dran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Giese
Vom Netzwerk:
Canyon: Steile Wände ragen links, rechts, über und vor mir auf wie Felswände. Tief unten, auf saftigem Grün, spielen sich kleine Figuren warm. Der Gesang Zehntausender füllt diese Schlucht. Es ist monumental.
    «Na?» Kaminski steht neben mir. «Beeindruckt?»
    Ich nicke anerkennend. «In der Tat.»
    Wir steigen bis zu einer der obersten Stufen, nur noch acht oder neun Reihen sind über uns. Links unter uns singen die Ultras sich warm. Zwei Einpeitscher auf einem Podest dirigieren sie.
    «Heute wolln wir siegen, wir gehen richtig ran! Borussia spielt heut ganz groß, bis zum letzten Mann! Heja BVB …»
    Eichhörnchen und ich schieben uns hinter ein Geländer, Melanie und Kaminski postieren sich vor uns, Sedat hat einen Kumpel gefunden und sich in Richtung einer türkisch-deutschen Community abgesetzt. «You never walk alone» wird intoniert. Kaminski und Melanie halten ihre Schals in die Höhe und wiegen sich selig von links nach rechts. Mannschaftsaufstellung, einlaufen, Fahnen schwenken, dann geht das Spiel los.
    Die Vierer-Abwehrkette läuft, als würde ein Faden an ihr ziehen. Die Südtribüne ruft ein «Olé! Olé!» ins Rund, das Stadion antwortet «Olé! Olé!». Ich gebe es nicht gerne zu, auch mir selbst gegenüber nicht – denn Fußball, was ist schon Fußball? Ein Bolzsport mit Proletenfans, die Bahnsteige bepinkeln –, aber ich bin ergriffen und staune so sehr über alles, die Geräusche, die synchrone Bewegung Tausender, die flirrende Atmosphäre, dass ich das Bier in meiner Hand vergesse und es aus meinem vornübergeneigten Becher schwappt. Ich würde wohl genauso empfinden, würde heute ein anderer Club spielen, wäre ich auf Schalke und trüge ich eine blau-weiße Kappe. Denn ich habe nichts am Hut mit der Rivalität dieser beiden Vereine, die sich gegenseitig in affektierter Kleinkariertheit Herne-West und Lüdenscheid-Nord nennen – und nicht nur das: Ich erlebe die hochgeputschte Feindschaft, die in jedem nur möglichen Moment, in dem einer der beiden Stadtnamen fällt, zutage tritt, sogar als ausnehmend lächerlich. Es ist mir jetzt, während ich als eine von vielen hier stehe, also einerlei, welche Farben ich trage, aber ich habe noch nie solch eine Masse von Menschen mit einer derart tiefen Leidenschaft synchron singen, hüpfen und pfeifen hören, noch nie so viele Menschen so viele Arme in die Höhe recken und gleichzeitig den Unterarm nach vorne werfen sehen. Die Südtribüne ist ein Schwarm, eine Herde, eine taktgesteuerte Formation. Mehr als achtzigtausend Menschen sind heute hier, das sind vier sauerländische Kleinstädte; ganze Landstriche wären entvölkert, stünde dieses Stadion in Medebach.
    In meiner Hosentasche vibriert mein Handy.
    «Ja??», brülle ich in die Sprechmuschel, denn Arturo Vidal bolzt gerade Shinji Kagawa weg, und Kaminski grölt steinzeitlich.
    «Was ist denn bei dir los?» Mutter.
    «Ich bin im Stadion!»
    «Wo bist du?»
    «Im Sta-di-on!»
    «Wer grunzt denn da? Das ist ja primitiv.»
    «Wem sagst du das!»
    «Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht.»
    Barnetta netzt zum 0 : 1 ein. Für Leverkusen. «Mama! Hier ist grad die Hölle los!», brülle ich gegen die Pfiffe der Südtribüne an. «Ich kann jetzt nicht!»
    «Ich wollt auch nur, also – du hast dich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gemeldet.»
    «Zwei Wochen!»
    «Eben. Unsaomma hatte Brechdurchfall.»
    «Noro-Virus?»
    «Jaaaaaaaaa!» Ich reiße meine Faust in die Höhe. Sebastian Kehl hat das 1 : 1 gemacht. Mir fliegt etwas Nasses in den Nacken. Aber was ist jetzt los? Der Schiedsrichter winkt ab. Abseits.
    «Du tickst doch wohl nicht richtig, du Flachpfeife!», ruft Kaminski über hundert Meter Luftlinie dem Schiri zu.
    «Ich lege dann mal auf, Kind. Du kannst mir ja morgen alles erklären», sagt Mutter. «Und denk dran: Um 11 Uhr bin ich beim Brunch.»
    «Ja, Mama.» Das war maximal gleiche Höhe. Abseits? Nie und nimmer.
    «Küsschen.»
    «Küsschen.»
    «Wat für ’ne Flitzpiepe bist du eigentlich?!», brüllt Kaminski. «Du Klötenpony! Hast du Mehlaugen, odda watt?» Er kriegt sich gar nicht mehr ein.
    «Den Eierarsch da unten würd ich nich mal ’ne F-Jugend pfeifen lassen! Dat gibbet doch gar nich, dat so einer Bundesliga pfeift!»
    In Kaminskis Geschimpfe hinein schießt Augusto das 0 : 2 , nachdem er vorher drei Dortmunder hat stehen lassen. Die BVB -Spieler sind erstarrt, schleichen über den Rasen wie Hunde im Regen, grämen sich haareraufend. Die Südtribüne pfeift immer

Weitere Kostenlose Bücher