Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
geradeaus führte eine Holztür mit Milchglaseinsatz.
Es war kühl im Zimmer, ein Fenster stand weit offen. Bianca ging, es zu schließen. Das Wohnzimmer strahlte eine nüchterne Ordnung aus, es waren keine Bücher zu sehen, ein überdimensionierter Fernseher beherrschte den Raum. Davor befand sich ein niedriger Couchtisch mit einer Glasplatte. Dem Sofa und den beiden Sesseln sah man seine Herkunft aus einem skandinavischen Einrichtungshaus deutlich an.
»Bitte nehmen Sie Platz, Herr Rubin«, sagte Bianca. Sie blickte auf Freitag. »Braucht der Hund etwas?«, erkundigte sie sich.
»Er heißt Freitag und ist sehr zufrieden.«
Rubin legte den Band mit Gedichten auf den Tisch.
»Verzeihen Sie, dass ich Ihr Eigentum an mich genommen habe. Aber ich brauchte einen Beweis.«
»Ich verstehe«, sagte Bianca. Ihre Augen strahlten plötzlich eine unerwartete Härte aus. »Und welchen Schluss ziehen Sie, Herr Rubin?«
»So weit bin ich noch nicht.«
Bianca ballte die Fäuste und presste sie gegen ihre Oberschenkel. Mit bebender Stimme sagte sie: »Es gibt Dinge, die blöd klingen, wenn man sie beim Namen nennt. Deshalb ist es das Beste, wenn man sie verschweigt und Taten sprechen lässt. Aber ich kann jetzt nichts mehr tun. Ich muss es aussprechen: Ich habe Serkan geliebt. Ich liebe ihn noch immer.«
Rubin schwieg. Was hätte er auch sagen können? Er spürte, dass Bianca ihr Herz erleichtern wollte, und nickte ihr zu. Sie begann unsicher.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal machen würde: Frank betrügen. Aber ich habe die Liebe zu Serkan nie als Betrug empfunden. Nachdem ich ihn kennengelernt hatte, habe ich angefangen, Frank mit anderen Augen zu sehen.«
»Wie lange bist du mit Frank zusammen? Ich darf doch Du sagen?«
»Ja, natürlich dürfen Sie. Frank und ich kennen uns seit dem Kindergarten. Wir sind in dieselbe Klasse gegangen, hier in Bad Löwenau. Ich habe Abitur gemacht, Frank hat nach der mittleren Reife die Ausbildung bei seinem Vater begonnen. Wir haben alles zusammen gemacht. Wir sind sogar gemeinsam zur Tanzstunde gegangen. Ich habe immer gedacht: Das ist so, das ist mein Leben! Frank ist mein Mann! Wir haben seit unserer Jugend gemeinsame Freunde, unsere Familien verstehen sich gut … auch wenn das bei der Familie Schirner nicht immer einfach ist.«
Rubin nickte wissend. Bianca senkte ihre Stimme.
»Ich wusste lange Zeit nicht, dass mir überhaupt etwas fehlte.«
Sie atmete tief durch, strich sich eine Strähne ihres blonden Haares aus der Stirn, dann fuhr sie fort. »Ich habe einmal einen schönen Satz gelesen: ›Das Leben macht uns manchmal blind für die einfachsten Dinge.‹«
Bianca neigte den Kopf zur Seite, während sie weitersprach. »Serkan war so vollkommen anders. Nicht nur anders als Frank. Er war anders als alle Menschen, die ich kenne. Er hat mich nie angemacht oder so, er war nie aufdringlich. Es hat sich alles ganz natürlich entwickelt. Ich weiß, es klingt ein bisschen kitschig, wenn ich es so sage, aber: Wir waren füreinander bestimmt.«
»Ihr hattet gemeinsame Interessen«, sagte Rubin.
»Ich habe mich bei ihm verstanden gefühlt, aufgehoben. Er hat sofort begriffen, warum ich manchmal beim Anblick eines schönen Bildes in Tränen ausgebrochen bin. Oder wenn ich vor Begeisterung über ein schönes Gedicht minutenlang unfähig war zu sprechen. Serkan besaß eine große Leidenschaft für schöne Dinge, seine Neugierde war grenzenlos. Wir haben gemeinsam viele wunderbare Entdeckungen gemacht und durch unsere Begeisterung und Hingabe Erfahrungen gesammelt, die nicht jeder macht. Dabei hat die Liebe zur Kunst Serkan niemand in den Schoß gelegt. Seine Familie und sein Bruder bestimmt nicht!«
»Hat Serkan sehr unter seinem Bruder gelitten?«
Bianca überlegte einen Moment.
»Gelitten vielleicht nicht, aber er musste fast alles, was er tat, gegen die Widerstände seines Bruder tun. Das zermürbt mit der Zeit.«
»Du hast aber auch keinen Mitstreiter in Sachen Kunst, oder?« Rubin ließ seinen Blick über die nüchterne Wohnzimmereinrichtung schweifen.
»Das ist richtig. Frank hat für Kunst und Literatur nichts übrig. Er tut das alles als Quatsch ab und sagt immer: ›Das ist Biancas Kram.‹ Neuerdings gibt er sich ein wenig Mühe, so zu tun, als hätte er Verständnis, aber das hat er nicht.«
»Hat Frank keine Hobbys?«
»Frank? Nein, er hat keine Hobbys. Manchmal geht er mit seinen Eltern kegeln, ansonsten verbringt er die Abende vor dem Fernseher, wenn er
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