Daddy Uncool
Raum musste dringend gesaugt werden. Aber das ging nicht, bevor ich sie dazu gebracht hatte, ein bisschen aufzuräumen, was eine Unterhaltung voraussetzte, auf die ich gerne verzichtet hätte. Ich ging zu ihrem Schreibtisch, um einen Becher einzusammeln, und sah auf das Durcheinander von Schulbüchern, Papier, Ordnern und persönlichem Müll, der scheinbar wahllos aufgeschichtet war. Von der Oberfläche des Schreibtisches war nichts zu sehen. Und zwischen den Bergen von Zeug lag etwas, das mich kurz innehalten ließ, bevor mein Herz schneller zu schlagen begann: ein Tagebuch.
Ich nahm es in die Hand; ich konnte nicht widerstehen. Ich hatte so hart um Einblicke in die Gedanken meiner Tochter gekämpft, hatte versucht, ihre emotionale Verfassung zu verstehen, dass ich jetzt einfach nicht anders konnte, es war zu verlockend. Hier in meiner Hand hielt ich ein Objekt, das mehr versprach als jede Unterhaltung, die ich mühsam in Gang bringen musste: ihre eigenen Worte - unzensiert, unmissverständlich und ungeschützt.
Ich öffnete es. Die erste Seite enthielt ihren Namen und ihre Adresse - die, die sie mit ihrer Mutter geteilt hatte. Und dann, innerhalb eines kleinen, reich verzierten Kästchens (alle Schnörkel und andere Details waren sorgfältig ausgemalt worden), kam eine Notiz für alle, die es zufällig finden würden. »Falls dies gefunden wird, bitte zur oben stehenden Adresse zurückbringen. Belohnung garantiert.« Ich biss mir auf die Lippen. Der geschäftsmäßige Ton, sicher bei Erwachsenen abgeschaut, traf mich völlig unerwartet. Es
war, als würde man ein Kind betrachten, das Erwachsenenkleidung trägt: Selbst wenn sie passte, sah es immer merkwürdig und falsch aus.
Ich blätterte durch die Seiten. Das Jahr begann ganz gewöhnlich. Caitlin war zu einer Silvesterparty bei einer Freundin gegangen, und Cathy hatte ihr erlaubt, bis nach Mitternacht zu bleiben. Sie holte sie um halb eins ab. Caitlin hatte notiert, dass Cathy mit Hausschuhen auf der Party aufgetaucht war, was Caitlin sichtlich peinlich war. Ich versuchte, mich zu erinnern, ob Cathy jemals Hausschuhe getragen hatte, während wir zusammen waren. Aber dann stellte ich mir vor, dass sich diese untrüglichen Indizien der reiferen Jahre sicher irgendwann an uns herangeschlichen hätten, ohne dass wir uns ihrer bewusst geworden wären. Und dann wären noch die Lesebrille, die Knieschützer, die Schuheinlagen dazugekommen, bevor wir gemerkt hätten, dass unsere Jugend vorbei war.
Die Tagebucheintragungen im Januar und Februar waren deutlich länger als die der folgenden Monate. Im März waren die Aufzeichnungen ihrer Gedanken über Freunde, Lehrer und Jungs weniger ausführlich. Ihre Neigung, Gefühle durch Emoticons auszudrücken, hatte allerdings nicht dasselbe Schicksal ereilt wie ihr literarischer Anspruch. Ich lernte außerdem, dass das Wort »sick« bedeutete, dass etwas wirklich gut war.
Natürlich wusste ich, was kommen würde. Es war so unvermeidlich wie das Ende eines Stierkampfes. Ich blätterte zu dem Tag vor dem Unfall und … ich konnte kaum hinsehen. Ich schlug die Seite behutsam auf,
als hätte ich Angst, etwas zu wecken. Ich entschuldigte mich in Gedanken bei Caitlin, wappnete mich für das, was kommen würde, und fing entschlossen an zu lesen. An dem Tag, bevor Cathy getötet wurde, hatte Caitlin Sportunterricht und Pizza zum Abendessen. Pizza. Gab es etwas Alltäglicheres als ein Kind, das ein Stück Pizza isst? Die bittere Erkenntnis, dass Caitlin durch die frühen Jahre ihres Teenagerlebens ging, ohne sich der gleichgültigen Hand des Schicksals bewusst zu sein, die über ihr schwebte, lastete stark auf mir. Meine Atmung wurde flach.
Ich blätterte auf die nächste Seite und … nichts. Einfach nur Papier. Leere, die darauf wartete, gefüllt zu werden. Vögel zwitscherten auf einem Baum vor dem Fenster, die Welt drehte sich weiter, unaufhörlich und teilnahmslos. Ich starrte auf die leere Seite und überlegte, was ich eigentlich erwartet hatte. Eine Aufzählung der Ereignisse des Tages? Eine umfassende Beschreibung der unwissentlich letzten Momente des Zusammenseins mit ihrer Mutter? Irgendetwas von zentraler Bedeutung, was unsere Beziehung vollkommen verändern würde? Tatsächlich war es das, was ich wollte: Antworten. Und wenn ich die schon nicht bekommen sollte, dann wollte ich wenigstens einen Einblick gewinnen; die kleinste Enthüllung würde schon helfen.
Ich blätterte die Seite um. Und dann noch eine. Und noch eine.
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