Dämmerschlaf - Roman
– unfruchtbar im seelischen wie im körperlichen Sinne –, ihre Jugend zu versäumen und auf die Liebe zu verzichten wegen Agnes Heustons Pflichtauffassung gegenüber diesem ältlichen Pastor, den sie Gott nannte!
Diese Frau, mit der er nun angeblich davonlie f … Nona hatte so getan, als wisse sie nichts davon, hatte bei der Nachricht ungläubig die Augen aufgerissen. Aber natürlich kannte sie sie, jeder kannte sie, es war Cleo Merrick. Sie war seit zwei Jahren «hinter ihm her», sie hatte keinen Ruf mehr zu verlieren und würde den Vorschlag, mit einem Mann wie Heuston ein paar fidele Wochen zu verbringen, begeistert aufnehmen, selbst wenn er sie später sitzen ließ. Aber das würde er natürlich nicht tun, niemals! Der arme Stan – wie warm und belebend erschienen ihm wohl Cleo Merricks Gezänk, Frechheit und ordinäre Art, verglichen mit dem Eiskeller, den er sein Zuhause nannte! Sie würde sich an ihn klammern, gerade weil sie so billig war, ihre Rücksichtslosigkeit würde aussehen wie Großzügigkeit, ihr Funkenflug wie Leidenschaft. Ach, wie leicht hätte Nona ihm den Unterschied zeigen können! Sie schloss die Augen und spürte seine Lippen auf ihren Lidern, und ihre Lider wurden zu Lippen. Wo immer er sie berührte, erblühte ein Mun d … Wusste er das? Hatte er das nie geahnt?
Sie sprang aus dem Bett, lief ins Ankleidezimmer, badete und zog sich in fieberhafter Eile an. Sie würde ihn nicht anrufen – Aggie hatte gute Ohren. Sie würde ihm auch keinen Eilbrief schicken – Aggie hatte scharfe Augen. Sie würde ihn einfach durch ein Telegramm zu sich rufen, ein unverfängliches, anonymes Telegramm. Sie würde aus dem Haus laufen und es selbst aufgeben, würde nicht einmal warten, bis man ihr den Kaffee brachte.
«Komm heute irgendwann zu mir. Neulich abends, das war zu dumm.» Ja, das würde er verstehen. Sie müsste es nicht einmal unterzeichnen.
Auf der Schwelle ihres Zimmers, den zerknitterten Telegrammtext in der Hand, wurde sie vom Klingeln des Telefons aufgehalten. Das war bestimmt Stanley, er musste denselben Drang verspürt haben wie sie! Sie fingerte ungeschickt am Hörer herum, die Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie hatte zu lange gewartet, sie hatte das Unmögliche von sich gefordert. «Ja, ja? Bist du es, Liebling?», sagte sie mit einem Lachen unter Tränen.
«Wie bitte? Ich bin’s, Jim. Bist du es, Nona?», kam es mit ruhiger Stimme zurück. Hatte sie Jims Stimme jemals anders als ruhig erlebt?
«O Jim, Lieber!» Sie schluckte die Tränen und das Lachen hinunter. «Ja, was ist? Du rufst aber früh an!»
«Hoffentlich habe ich dich nicht geweckt. Kann ich auf dem Weg in die Stadt bei dir vorbeischauen?»
«Natürlich. Wann? Wie schnell?»
«Jetzt. In zwei Minuten. Ich muss vor neun im Büro sein.»
«Gut. In zwei Minuten. Komm gleich nach oben.» Sie legte auf und schob das Telegramm beiseite. Keine Zeit mehr, damit hinauszulaufen. Erst würde sie Jim empfangen und dann, wenn er fort war, ihre Nachricht abschicken. Jetzt, wo sie sich entschieden hatte, war sie gelassen und konnte warten. Aber nun wuchs ihre Sorge um Jim. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie in den letzten beiden Tagen so wenig an ihn gedacht hatte. Seit sie sich in jener Regennacht an der Tür von Stan getrennt hatte, war ihr alles außer ihrem und seinem Schicksal entrückt und fast gleichgültig geworden. Nun ja, das war im Grunde verständlich, nur hätte sie vielleicht nicht gar so vorschnell über Aggie Heustons Selbstsucht urteilen sollen! Natürlich waren alle Verliebten selbstsüchtig, und Aggie war auch verliebt, so wie sie es eben verstand. Ihre Liebe war, wie alles an ihr, düster und gehemmt, eine gewissermaßen fleischlose, knochige Angelegenheit, wie die abstoßenden Tafeln in den Anatomiehandbüchern. Und in Wirklichkeit streckten sich diese dürren Arme nach Stanley aus, obwohl Aggie sich einbildete, sie erhöbe sie zu Gott… Was war das Leben doch für ein schreckliches Rätsel! Und Pauline und ihre Freundinnen sahen darin beharrlich eine Art Sonntagsschulpicknick mit Limonade und Biskuitkuchen als Hauptgewin n …
Da stand Jim schon in der Wohnzimmertür. Nona breitete die Arme aus, und als er ihr seine Wange zum Kuss hinhielt, sah sie ihn von der Seite an. War diese Wange blasser als sonst? Nun gut, das hatte nicht viel zu sagen, sie waren beide immer etwas grau, wenn sie Kummer hatten.
«Was ist los, alter Freund? Nein, dieser Sessel ist bequemer. Hast du schon Kaffee
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