Daemmerung der Leidenschaft
einzige, die mir nicht mit dieser falschen Munterkeit kommt und mir weismachen will, daß ich hundert Jahre alt werde«, sagte sie mit ironischer Billigung. »Verdammte Dummköpfe. Glauben sie, ich wüßte nicht Bescheid? Ich habe Krebs und bin zu alt, um meine Zeit und mein Geld mit einer teuren Behandlung zu verschwenden, wo mich die Jahre, die ich schon auf dem Buckel habe, sowieso bald kleinkriegen werden. Ich lebe in diesem alten Leib, verdammt nochmal, und weiß, daß er allmählich dichtmacht.«
Daraufhin hätte jeglicher Einspruch nach Heuchelei geklungen oder gleichgültig, also sagte Roanna gar nichts. Sie schwieg oft, ließ die Unterhaltung um sich herumfließen, ohne irgendwelche verbalen Ruder auszufahren, die die Strömung in ihre Richtung hätten lenken können. Es stimmte, daß jeder im Haus geflissentlich ihre Verfassung ignorierte, als ob sie wieder verschwinden würde, wenn man sie nicht beachtete. Es handelte sich jetzt nicht mehr nur um Gloria und Harlan; irgendwie hatte die Großtante es fertiggebracht, innerhalb eines Jahres nach Jessies Tod und Webbs Fortgang, mehr von ihrer Familie hier einzuschleusen. Ihr Sohn, Baron, hatte beschlossen, in Charlotte zu bleiben; aber alle anderen wohnten nun auf Davenport: Glorias Tochter, Lanette, mit ihrer ganzen Familie, Ehemann Greg und die Kinder Corliss und Brock, wobei letzterer auch schon dreißig war und Corliss in Roannas Alter. Lucinda hatte zugesehen, wie sich das Haus allmählich bevölkerte, vielleicht ja, weil sie die Leere, die Jessie und Webb hinterlassen hatten, auffüllen wollte. Angenommen, Roanna konnte Webb zur Heimkehr überreden – eine zugegebenermaßen verwegene Hoffnung –, dann fragte sie sich, was er wohl von dem allen halten würde. Sicher, es waren Verwandte, aber irgendwie bezweifelte sie sein Einverständnis mit dieser Invasion.
»Du weißt, daß ich mein Testament nach Webbs Fortgang geändert habe«, fuhr Lucinda wenig später fort und nahm noch einen Schluck Tee. Sie blickte aus dem Fenster auf das Meer pfirsichfarbener Rosen, ihre Lieblingsfarbe, und straffte ihre Schultern, wie um sich auf die Fortsetzung vorzubereiten. »Ich habe dich zur Haupterbin gemacht; Davenport und der größte Teil des Vermögens würden an dich gehen. Ich denke, es ist nur fair, dir zu eröffnen, daß ich, wenn Webb sich entschließt zurückzukommen, das Testament wieder zu seinen Gunsten abändern werde.«
Roanna nickte. Deshalb würde sie sich nicht weniger bemühen. Persönliche Gefühle in diesem Zusammenhang gestattete sie sich nicht. Roanna akzeptierte die Tatsache, daß sie trotz all ihrer Bemühungen nie den Geschäftssinn und das Talent entwickeln konnte wie Lucinda und Webb. Sie ging nicht gerne Risiken ein, und brachte auch keine Begeisterung für die Welt des Big Business auf. Davenport war bei ihm in besseren Händen, ebenso wie die zahllosen kleinen und größeren Unternehmungen.
»So haben wir es ausgemacht, als er vierzehn war«, fuhr Lucinda fort. Sie klang barsch und saß noch immer hochaufgerichtet und steif da. »Wenn er hart arbeitet und fleißig lernt, um schließlich die Zügel in die Hand zu nehmen, würde eines Tages alles ihm gehören.«
»Ich verstehe«, murmelte Roanna.
»Davenport ...« Lucinda starrte hinaus auf den perfekt geschnittenen Rasen, auf die Blumen, die Weiden im Hintergrund, wo ihre geliebten Pferde ihre glatten, glänzenden Hälse zum Grasen beugten. »Davenport verdient die beste Führung. Es ist nicht bloß ein Haus, sondern ein Vermächtnis. Davon gibt es nicht mehr viele, und ich muß denjenigen wählen, den ich für den besten Hüter dieses Vermächtnisses halte.«
»Was ich tun kann, tue ich«, versprach Roanna, und ihr Gesichtsausdruck war so still wie ein Teich an einem heißen Sommertag, an dem nicht die geringste Brise die glatte Oberfläche kräuselt. Das war ihr Gesicht, die Fassade, hinter der sie lebte, eine Fassade der Unbewegtheit, fern und gelassen. Nichts konnte den sicheren Kokon durchbrechen, den sie um sich gewoben hatte, niemand außer Webb, ihre einzige Schwäche. Ohne es zu wollen, begannen ihre Gedanken abzuschweifen. Ihn wieder hier zu haben ... es wäre gleichzeitig der Himmel und die Hölle auf Erden. Ihn jeden Tag zu sehen, seine Stimme zu hören, ihn nahe zu wissen in all den langen, dunklen Nächten, in denen ihre Alpträume wieder erwachten ... zu schön, um wahr zu sein. Aber unerträglich wäre auch sein Haß in jedem seiner Blicke, die er ihr zuwarf.
Doch
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