Daemmerung der Leidenschaft
nein, sie mußte realistisch denken. Sie würde nicht hierbleiben. Wenn Lucinda – sie betrachtete sie längst nicht mehr als Großmutter – starb, dann war auch für sie das Kapitel Davenport zu Ende. Webb würde sie wohl kaum unter seinem Dach dulden. Sie würde ihn nicht jeden Tag sehen, am besten überhaupt nicht mehr. Sie würde ausziehen müssen, sich einen Job suchen, sich der Welt da draußen stellen. Nun, mit ihrem Universitätsabschluß und ihren Erfahrungen auf dem Finanzsektor hatte sie Chancen, einen ordentlichen Job zu finden. Vielleicht ja nicht in dieser Gegend; vernünftigerweise zöge sie woanders hin und käme endlich zur Ruhe. Doch darüber würde sie sich später den Kopf zerbrechen. Hier gehörte er her. Ihr gedankenloses Verhalten hatte ihn zeitweise sein Erbe gekostet – da war es nur recht und billig, daß sie es ihm wieder zurückerstattete.
»Macht es dir denn gar nichts aus?« brach es abrupt aus Lucinda hervor. »Daß du Davenport verlierst, wenn du mir diesen Gefallen tust?«
Es ist alles egal. Das war ihr Mantra, ihre Litanei, seit zehn Jahren sagte sie sich das. »Du kannst es hinterlassen, wem immer du willst. Webb war dein gewählter Erbe. Und du hast recht; er ist viel besser dafür geeignet als ich.«
Sie sah, daß ihr emotionsloser Ton Lucinda irritierte, aber Leidenschaft, und wenn auch nur eine Andeutung, überstieg einfach ihre Kräfte.
»Aber du bist eine Davenport«, meinte Lucinda, als ob sie wollte, daß Roanna ihre Entscheidung für sie rechtfertigte. »Einige Leute werden sagen, daß Davenport von Rechts wegen dir zusteht, weil Webb ein Tallant ist. Er ist zwar mein Blutsverwandter, aber kein Davenport, und nicht annähernd so direkt dazugehörig wie du.«
»Aber er ist der bessere Kandidat.«
Gloria kam ins Wohnzimmer und hörte gerade noch Roannas letzte Bemerkung. »Wer ist der bessere Kandidat?« fragte sie und ließ sich in ihren Lieblingssessel sinken. Gloria war dreiundsiebzig, zehn Jahre jünger als Lucinda. Während die Ältere ihr Haar weiß ließ, trotzte Gloria den Jahren, indem sie ihre feinen Wellen regelmäßig in einem dezenten Blondton färbte.
»Webb«, antwortete Lucinda angespannt.
»Webb!« Schockiert starrte Gloria ihre Schwester an. »Um Himmels willen, wofür könnte jemand wie er bloß der bessere Kandidat sein, außer für den elektrischen Stuhl?«
»Um Davenport und unsere Geschäfte zu leiten.«
»Du machst wohl Witze! Es würde doch niemand etwas mit ihm zu tun ...«
»O doch«, sagte Lucinda mit einem stählernen Unterton in der Stimme, »das würden sie. Wenn er der Boß ist, wird jeder Geschäfte mit ihm machen, oder sich wünschen, nicht so dumm gewesen zu sein.«
»Ich verstehe nicht, warum du überhaupt seinen Namen erwähnst. Wir wissen doch nicht mal, wo er ...«
»Inzwischen schon«, unterbrach Lucinda. »Und Roanna wird versuchen, ihn zur Rückkehr zu überreden.«
Das war das Stichwort für Gloria, sich auf Roanna zu stürzen. »Bist du vollkommen wahnsinnig geworden?« keuchte sie. »Du kannst doch nicht wirklich einen Mörder in unsere Mitte bringen wollen! Himmel, ich würde nachts kein Auge mehr zukriegen!«
»Webb ist kein Mörder«, korrigierte Roanna schroff und nippte an ihrem Tee, ohne Gloria auch nur eines Blickes zu würdigen. Auch Gloria war für sie keine »Tante« mehr. Irgendwann in jener furchtbaren Nacht, nachdem Webb aus ihrer aller Leben verschwunden war, hatten die verwandtschaftlichen Bande aufgehört, für sie zu existieren – als ob sie sich emotional so weit von ihnen allen distanziert hatte, daß auch familiäre Namen ihre Bedeutung verloren. Die Menschen ringsum hießen nun einfach Lucinda, Gloria, Harlan.
»Warum ist er dann verschwunden? Nur jemand, der ein schlechtes Gewissen hat, läuft davon.«
»Hör auf damit!« fuhr Lucinda sie an. »Er ist nicht davongelaufen, sondern er hat uns satt gehabt und ist gegangen. Das ist etwas ganz anderes. Wir haben ihn im Stich gelassen, also kann ich es ihm kaum vorwerfen, daß er uns den Rücken kehrte. Aber Roanna hat recht; Webb ist kein Mörder. Das habe ich auch nie angenommen.«
»Nun, Booley Watts aber!«
Lucinda fegte Booleys Verdächtigungen mit einer Handbewegung beiseite. »Das spielt keine Rolle. Ich halte Webb für unschuldig! Es gab keinerlei Beweise gegen ihn, also ist er auch vor dem Gesetz unschuldig, und er soll wiederkommen.«
»Lucinda, sei doch nicht so eine alte Närrin!«
Lucindas Augen glitzerten auf einmal mit einer
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