Daemmerung der Leidenschaft
von ihrer Anwesenheit keine Ahnung zu haben. Nur weil sie sich bewußt bemühte, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, war sie bis jetzt noch nicht angesprochen worden. Sie trug schlichte, konservative Kleidung: dunkelgrüne Hosen, dazu eine cremefarbene, hochgeschlossene Seidenbluse, kaum die Aufmachung einer Frau, die auf eine schnelle Eroberung aus war. Strikt vermied sie jeden Blickkontakt und verkniff sich jegliches Interesse an der Umgebung. Im Lauf der Jahre hatte sie ziemlich perfekt gelernt, sich sozusagen »unsichtbar« zu machen, und das kam ihr heute abend sehr zugute. Es war jedoch unvermeidlich, daß sich früher oder später einer der Cowboys aufraffen und sie trotz ihrer deutlichen Abwehrsignale ansprechen würde.
Die Müdigkeit steckte ihr in den Knochen. Es war zehn Uhr abends und sie seit sechs Uhr morgens auf den Beinen. Von Huntsville ging der Flug über Birmingham und Dallas – mit einem Zwischenstopp in Jackson, Mississippi. In Dallas hatte es einen vierstündigen Aufenthalt gegeben, bis sie endlich mit dem Anschlußflug nach Tucson, Arizona, gelangte. Das war um sechzehn Uhr siebenundzwanzig, nach örtlicher Zeit, gewesen. Anschließend hatte sie sofort einen Wagen gemietet und war auf der Interstate 19 in Richtung Süden nach Tumacacori gefahren, wo Webb, laut Auskunft von Lucindas Privatdetektiv, nun lebte. Aus der Akte erfuhr sie auch, daß er eine kleine, aber gutgehende Ranch besaß.
Es war ihr jedoch nicht gelungen, sie zu finden. Trotz genauer Wegbeschreibung irrte sie stundenlang auf der Suche nach der richtigen Abzweigung umher, kehrte wieder und wieder zur Interstate zurück, um sich neu zu orientieren. Sie war den Tränen nahe, als sie zuletzt einen Mann befragte, der zufällig in der Gegend wohnte und der Webb nicht nur persönlich kannte, sondern sie auch gleich zu dieser schäbigen Kneipe dirigierte, gleich am Ortsrand von Nogales. Hier pflegte Webb einzukehren, wenn er, wie heute zufällig, in der Stadt zu tun hatte.
Die Dämmerung war in einem wahren Farbenrausch hereingebrochen, so wie man es nur in trockenen Wüstengegenden erlebt, und sie hatte sich auf der Fahrt nach Nogales angesichts dieser überwältigenden Pracht ein wenig beruhigt. Auch der samtige, dunkelblaue, sternenübersäte Nachthimmel, der sich bei ihrem Eintreffen über ihr wölbte, half ihr dabei, sich, äußerlich zumindest, nichts mehr von ihrem inneren Aufruhr anmerken zu lassen.
Webb war bereits dagewesen, als sie das Lokal betrat; gleich als erster fiel er ihr auf. Der Schock, der sie bei seinem Anblick durchfuhr, hätte sie beinahe umgeworfen. Er hatte das Gesicht von ihr abgewandt und sich bei ihrem Eintreten natürlich nicht umgedreht; aber sie erkannte ihn trotzdem, denn ihr Körper funkte unmißverständliche, heftige Signale. Eilig war sie zu einem der wenigen noch freien Tische gegangen, wobei sie automatisch die dunkelste Ecke angesteuert hatte. Und dort saß sie nun. Die Kellnerin, eine abgearbeitete Mexikanerin Ende Dreißig, kam immer mal wieder an ihrem Tisch vorbei, um zu fragen, ob sie noch etwas wollte. Roanna hatte zunächst ein Bier bestellt und daran genippt, bis es schal war. Dann bestellte sie noch eins, obwohl sie Bier gar nicht mochte, ja, eigentlich fast niemals Alkohol trank; aber sie fürchtete, daß man sie, falls sie nicht noch etwas bestellte, bitten würde, den Tisch für etwas trinkfreudigere Kundschaft zu räumen.
Abwesend musterte sie die verkratzte Platte, auf der jede Menge Initialen und Botschaften von zahlreichen Messerklingen eingeritzt waren. Weiteres Warten machte die Sache gewiß nicht leichter. Sie sollte einfach aufstehen, zu ihm hingehen und es hinter sich bringen.
Doch sie rührte sich nicht. Hungrig glitt ihr Blick zu ihm zurück, nahm die Veränderungen wahr, die diese endlosen zehn Jahre gebracht hatten.
Er war vierundzwanzig gewesen, als er Tuscumbia verlassen hatte, ein junger Mann, reif für sein Alter zwar und mit einer Verantwortungslast, die wohl jeden anderen in seinem Alter überfordert hätte, gleichwohl ein junger Mann. Mit vierundzwanzig war er sich seiner eigenen Stärke und Persönlichkeit noch nicht so bewußt gewesen, war noch formbar, ein wenig zumindest. Der Mord an Jessie und die Verdächtigungen der Polizei sowie die Art, in der sich sowohl Verwandte als auch Freunde von ihm zurückzogen wie von einem Pestkranken, hatten ihn verhärtet. Die zehn Jahre, die seitdem vergangen waren, sogar noch mehr. Das zeigte deutlich die grimmige
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