DÄMONENHASS
Zittern wurde heftiger und hörte erst auf, als einige der zersplitterten Tannen nachgaben und der Flieger zum Waldboden rutschte.
Dort setzte die Sonne ihr reinigendes Werk fort. Ihre Strahlen fielen durch die Bäume und verwandelten das Ungeheuer in Matsch und schwarzen, rauchenden Unrat. Doch Nestor erkannte recht bald, dass dies noch Stunden dauern konnte, und angesichts des giftigen Gestanks und der ekelhaften Masse wartete er das Ende nicht ab.
Vor seinem geistigen Auge erwachten jedoch weitere Bilder zum Leben, und als er den Waldhang zum nahen Dorf hinabkletterte und ein übler, fauliger Hauch von dem sich auflösenden Flieger ihn umwehte, ›erinnerte‹ er sich an einen früheren stinkenden Windhauch ...
... Wind in seinem Haar, ja, und dunkle, rhombenförmige Gestalten, die auf den Aufwinden unter funkelnden, eisblauen Sternen dahinglitten – Flieger wie das Wesen dort hinter ihm. Ihre Reiter saßen stolz und furchteinflößend in ihren Sätteln. Ein ferner Schreckensschrei erstarb in der Morgenluft, wie auch die Szene in den Gewölben seiner Erinnerung verblasste. »Wamphyri!«
Wamphyri? Der Schrei war Wirklichkeit gewesen. Er war von dem Dorf, das am Zusammenfluss der beiden Bäche lag, zu ihm heraufgeweht; aber der Lord Nestor ignorierte ihn, um sich den Erinnerungen, die er weckte, zu ergeben.
Nestor hielt inne, blickte zurück, den Hang hinauf, wo immer noch Dunst und Nebel zwischen den Tannen hervorquollen und sich wie in Zeitlupe über den Rand des Steilhangs ergossen. War das etwa sein Flieger gewesen? Das konnte nicht sein. Schließlich stand er mitten im Sonnenlicht und empfand keinerlei Unbehagen.
Aber andererseits ... fühlte er sich in den warmen Sonnenstrahlen denn wohl? Hatte er sich darin je wohlgefühlt?
Lord Nestor von den Wamphyri ...
Es erschien ihm wie ein Traum, wie ein Spiel, das er als Kind gespielt hatte. Jetzt fiel ihm wieder ein, wie er seine menschliche Beute tief im Wald gejagt hatte, wie er sie gewittert und mit sämtlichen wachen Vampir-Sinnen aufgespürt hatte! Nur ... was war mit seinen Vampir-Sinnen geschehen?
Er war also ein Vampir – tatsächlich ein Wamphyri? Er wich vor der Sonne zurück, die sich nicht weiter an ihm störte und weiterhin den südlichen Horizont beschien.
Demnach war er also ein Vampir gewesen! Aber wenn das stimmte, wie konnte ein Untoter wieder ins Leben zurückkehren? Warum sollte er das überhaupt wollen? Und was war mit den Menschen dort unten in Zwiefurt? Wie würden sie ihn empfangen, wenn er zu ihnen ging?
Er verzog das Gesicht, setzte sich in das hohe Gras am Hang und dachte über seine Lage nach. Er musste sich in Acht nehmen. Er musste sich erst selbst kennenlernen, ehe er es wagen konnte, sich anderen zu zeigen. Doch was war mit seiner Vergangenheit? Wenn jemand ihn fragte, was konnte er ihm dann sagen? Dass er der Lord Nestor von den Wamphyri war? Wohl kaum!
Eine Bewegung riss ihn aus seinen Gedanken.
Ein Kaninchen kam aus seinem Loch, zwinkerte mit seinen rosa Augen und stellte die Ohren nach allen Seiten, ehe es vorsichtig loshoppelte. Plötzlich stieß es einen schrillen Schrei aus, als sich eine Drahtschlinge um seinen Hals zog. Durch das wilde Zappeln des Tieres löste sich ein beschwerter Zweig aus seiner Klemme, schwang in die Höhe und erhängte so das arme Geschöpf.
Das war endlich etwas, was Nestor kannte und begriff: Jagen und Fallen stellen. Was machte es schon, dass es nicht seine Falle gewesen war. Es war sicher klüger, wenn er seinen Hunger hier stillte, statt in Zwiefurt, wo die Menschen ihm mit Argwohn begegnen würden.
Nur wenige Schritte entfernt war Nestor das Glitzern eines Feuersteinfelsens aufgefallen, der aus der flachen Erde ragte. Mit einem faustgroßen Stein schlug er ein paar gute Feuersteine davon ab, holte das Kaninchen und trug alles Notwendige für ein Kochfeuer zusammen.
In einem Kreis aus hohen Findlingen, der ihm Schatten und Deckung zugleich gewährte, bereitete er sein Essen zu. Wenn der Rauch seines Feuers unten gesehen wurde, hielt man ihn wahrscheinlich für einen einsamen Jäger, der sich in den Hügeln sein Frühstück briet.
Aber aus einem Grund, der ihm noch nicht recht klar war (vielleicht hing es mit den vielen Feuern zusammen, die unten brannten, dem schwarzen Qualm und dem nur zu vertrauten Gestank, der in der Hitze und dem Rauch emporstieg), vermutete Nestor, dass die Menschen im Dorf an diesem Morgen andere Probleme hatten, als sich große Gedanken um ihn zu machen
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