DÄMONENHASS
ganz unwillkürlich, ein instinktives Verlangen nach vergangenen, unwiederbringlichen Freuden. Es war leicht nachzuvollziehen, dass der Verstand eines Mannes ihm unter außergewöhnlichen Entbehrungen in seinen letzten Stunden falsche Trostbilder heraufbeschwor. Nur schien in Nathans Fall sein Verstand einen ganz persönlichen Dämon beschworen zu haben!
Daher gab er auf das, was dieses geistige Trugbild ihm soeben gesagt hatte, die krächzende Antwort: »Warum erschreckt dich die Vorstellung so sehr, dass die Lebenden die Toten quälen? Siehst du nicht, dass du es gerade umgekehrt treibst, dass nun die Toten die Lebenden foltern? Wenn du nicht gewesen wärst, würde ich jetzt meinen letzten Schlaf schlafen und sterben. Du hältst mich davon ab, verlängerst die Qual und machst es nur noch schlimmer.«
Der andere war entsetzt über Nathans Entschlossenheit. Was hat dich dazu gebracht? Das Kostbarste, was ein Geschöpf haben kann, ist das Leben. Und du, du bist so jung und weist es doch von dir! Du verweigerst
jedwede irdische Verantwortung! Sei gewarnt, Nathan: Gib deinen Platz unter den Lebenden auf – gehe freiwillig in einen unnötigen Tod – und du wirst bei der Großen Mehrheit keinen Trost finden. Was hat dich so weit getrieben, welcher Grund?
Nathan stützte den Kopf in die Hände und starrte in den Sand zwischen seinen Füßen. Ohne dass er es eigentlich wollte, spiegelten sich die Ereignisse der jüngsten Zeit in seinem Geist wider, und sein Quälgeist sah sie deutlich. Nach einer Weile sagte er:
Die Thyre haben keinen Drang nach Rache. Die ›Stimme‹ klang jetzt ruhiger. Wenn man uns wehtut, gehen wir weg und kehren nicht mehr zurück .
»Gerade das will ich ja«, entgegnete Nathan. »Wenn du mich nur lassen würdest.«
Aber bei den Szgany (der andere ignorierte seine Worte) ist das Bedürfnis, an einem Feind Rache zu nehmen, tief verwurzelt. So wie es auch in dir verwurzelt war. Was geschah also damit?
»Mein Schwur gegen die Wamphyri? Vielleicht habe ich erkannt, wie sinnlos er ist. Man kann die Wamphyri nicht besiegen. Aber ich bin Szgany, und wenn ich meinem Schwur gestatte, in mir zu sterben, kann ich ihm ebenso gut ins Vergessen folgen. Das ist kein großer Verlust, denn zu was ist ein Mann schon nutze, der nicht einmal seinen eigenen Schwur erfüllen kann?«
Selbstmitleid? (Ein körperloses Kopfschütteln.) Außerdem befindest du dich im Irrtum. Du meinst also, du wärst kein großer Verlust, ja? Du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass du der größte Verlust von allen wärst! Was die Wamphyri betrifft, sie sind nicht unbesiegbar! Vor langer Zeit wurden einige von ihnen vernichtet – von Leuten wie dir. Und ich spüre in dir dasselbe, was auch sie besaßen! Du glaubst, ich spreche von Nekromantie, aber du irrst dich. Es hat schon immer Nekromanten unter den Wamphyri gegeben – und es wird sie immer geben, das ist wohl wahr. Aber vor dir gab es schon Menschen, die mit den Toten sprechen konnten, Nathan! Keinesfalls gewöhnliche Menschen, nein, aber gewiss keine Nekromanten. Auch du bist kein Nekromant. Du bist ein ... Necroscope!
Nathan gab den Versuch auf, seine Stimme zu benutzen. Das brauchte er ohnehin nicht. Ein Necroscope? Das Wort habe ich ja noch nie gehört!
Ich kannte es vorher auch nicht! Es ist eines ihrer Wörter! Ich bin Thyre, und du bist Szgany, und die großen Vampir-Lords sind Wamphyri. Die, von denen ich jedoch spreche, waren Necroscopen! Genau wie du. Die Bedeutung des Wortes ist einfach: Du sprichst mit den Toten. Und ich bin der tote Beweis dafür.
Warum reden sie dann nicht auch mit mir? Nathans Frage schien vollkommen logisch. Ich meine natürlich die Szgany. Warum reden die Toten meines eigenen Volkes nicht mit mir?
Vielleicht ist später Zeit, sie das zu fragen, meinte der andere. Einige von deinem Volk haben ab und zu mit mir gesprochen, jedenfalls diejenigen unter ihnen, denen Gräber zuteil wurden. Aber ihr Szgany pflegt sonderbare Sitten! Ihr habt so viele von euren Toten verbrannt, und wenn sie verbrannt sind, ist es viel schwieriger, mit ihnen zu sprechen. Und noch schwieriger, wenn ihre Asche verstreut wird. Vielleicht verstreut dein Volk deshalb die Asche der Vampire – um ihnen auch die geringste Möglichkeit einer ungeheuren Jenseitsexistenz zu verwehren.
»Vermutlich liegt es daran«, gab Nathan nachdenklich zur Antwort. Er benutzte wieder seine Stimme; es kam ihm natürlicher vor. »Aber was geschieht mit den Thyre, wenn sie sterben? Was
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