DÄMONENHASS
benutzten sie eine komplizierte Bildersprache, die ganze Ideen vermittelte, wobei viele Einzelheiten unausweichlich verloren gingen. Ein Großteil ihrer ›Geschichtsschreibung‹ war so überliefert und mündlich – oder geistig – in Form von Mythen und Legenden von einer Generation an die nächste weitergegeben worden, woraus sich ihre Kunstform des Geschichtenerzählens entwickelt hatte. Unter den Erschaffern der Thyre-Romanzen war ein gewisser Jhakae der berühmteste gewesen, der nun schon seit über zweihundertachtzig Jahren tot war. Durch Nathan konnte Jhakae nun all seine besten Geschichten wiedergeben, die er für ein begrenztes Publikum von toten Uralten erschaffen hatte, und konnte sicher sein, dass sie an Tausende Lebende überliefert werden würden.
Nathan gab eine Geschichte nach der anderen weiter, und alle wurden sie in rasender Eile niedergeschrieben und mittels der Thyre-Glyphen, so gut es eben ging, aufgezeichnet: Die Geschichte vom Fuchs und der Gabelweihe, die Fabel vom Kürbis und vom Körnchen, das Märchen von Tiphue und dem Staubteufel. Zwanzig davon, dann dreißig, schließlich vierzig, und sie alle waren Schmuckstücke der Thyre-Erzählungen. Jhakaes neueste und größte Geschichte war allerdings noch unvollendet: Der junge Szgany in der Höhle der Uralten: eine Parabel. So kam auch Nathan zu Ehren.
In allem, was Nathan von den Toten an die Lebenden – und umgekehrt – weitergab, verfügte er über den unschätzbaren Rat und Beistand Rogeis. Doch die Menge an Wissen, die er zu übermitteln hatte, war so gewaltig, die Fragen von beiden Seiten so zahlreich, dass Prioritäten festgelegt werden mussten; Zeit wurde zugeteilt, und dem Praktischen wurde Vorrang vor der Theorie, dem Philosophischen und dem Theologischen eingeräumt. Innerhalb der vergleichsweise engen Grenzen des Daseins der Thyre waren Themen dieser Art ohnehin eingeschränkt. Als weit wichtiger und sofort anwendbar erwiesen sich Ideen und Geräte wie Shaekens ›Wasserpresse‹, seine ›Hydraulische Winde‹ und sein ›Bewässerungsrad‹.
Shaeken war jener Uralte, den Rogei bei ihrer ersten Begegnung erwähnt hatte, der Ledereimer zum Wasserschöpfen entworfen hatte. Shaeken hatte seine Besessenheit aus dem Leben auch im Tode weiterverfolgt und war zu weit bedeutenderen Dingen vorgedrungen. Doch selbst ohne die Hilfe seines Genies hätte Nathan den Thyre das Prinzip des Wasserrades vermittelt. Als Wüstenbewohner waren sie nie über das Grasland hinaus bis zu Siedlungen wie Zwiefurt gereist und hatten nicht gesehen, wie die Szgany sich die rohe Kraft des Flusses für ihre Arbeit zunutze machten.
Aber sie waren die Thyre. Je besser Nathan sie kennenlernte, desto besser verstand er auch ihren Stolz. Er brachte sein eigenes (ohnehin begrenztes) Wissen nicht zum Einsatz und verbrachte lange Stunden mit einem Grafitstift und auf Holzrahmen gespannten Echsenhäuten und zeichnete peinlich genaue Maschinenskizzen direkt aus Shaekens Bewusstsein. Jede fertige Zeichnung wurde begierig von Tischlern und anderen Handwerkern begutachtet, und mit dem Fortschreiten seiner Arbeit wurden die Prinzipien begriffen, und unter den Schnitzmessern nahmen die ersten Modelle Gestalt an.
Mitunter war Nathan erschöpft, doch er beklagte sich nicht. Sein Leben hatte einen Sinn. Sein Verstand war so beschäftigt, dass die Trauer und das Elend der Vergangenheit keinen Platz darin fanden. Seine neuen Freunde erwiesen ihm weit mehr Achtung, als ihm von den Freunden seiner Jugend je zuteil geworden war. Er war zufrieden oder glaubte, zufrieden zu sein. Zumindest eine Zeit lang ...
Er erfüllte gerne persönliche Anliegen. Rogei wollte fast zwanghaft herausfinden, was aus bestimmten Familienangehörigen und Verwandten geworden war. Nathan stand in seiner Schuld und stellte deshalb für ihn Nachforschungen an. Durch Nathan konnte Rogei mit denjenigen ›sprechen‹, die noch lebten. Andere waren fortgezogen und hielten sich in fernen Kolonien außerhalb der Reichweite der Totensprache der Thyre auf. Denn wie die Telepathie der Lebenden hatte auch die der Toten ihre Einschränkungen. Von denen, die Rogei suchte, waren viele an fernen Orten gestorben, außerhalb seiner Reichweite.
Mittlerweile hatte Nathans Ruhm sich verbreitet. Thyre aus anderen Kolonien trafen in der Stätte-unter-den-gelben-Klippen ein und brachten Einladungen ihrer Ältesten mit. Ohne Ausnahme wollten sie mit Nathan sprechen und ließen ihn wissen, dass er ihnen stets willkommen
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