DÄMONENHASS
unterquert die Große Rote Wüste und windet sich um eine kleinere Bergkette, in der Menschen leben, die dir sehr ähnlich sind – oder vielleicht auch nicht, denn sie geben einige ihrer jungen Leute an die Wamphyri ab. Und der Fluss verläuft weiter ins Unbekannte. Einige behaupten, er fließe bis zu einem Meer weit im Osten, jenseits der Höhlen der Totenbeschwörer. Aber das sind nur Gerüchte, denn kein Thyre ist bisher dort gewesen.«
Aufmerksam lauschte Nathan Atweis Worten. Er betrachtete die Simse, die der Fluss im Lauf einer undenklichen Zeitspanne aus den Wänden der Rinne geschnitten hatte, das schwarze, gurgelnde Wasser, das rasch dahinfloss, und die Beute der Fischer, die sich zappelnd in ihren Netzen wand. Der Fluss faszinierte ihn und stieß ihn zugleich ab. Der bloße Gedanke an seine Länge war bereits Ehrfurcht gebietend – über dreitausend Meilen unterirdischer Wasserwege, wenn Atwei recht hatte, wovon Nathan überzeugt war. Im Vergleich dazu waren die Flüsse der Sonnseite armselige Bächlein; der Große Finsterfluss erstreckte sich über mehr Meilen, als Nathan während seines gesamten Lebens gesehen hatte.
Und doch war es nicht so sehr die Größe des Flusses als vielmehr sein Verlauf, der Nathans Vorstellungskraft am stärksten beschäftigte: ein Verlauf, der dem Gebirge nach Osten in jene Region hinter der Großen Roten Wüste folgte, in der die Wamphyri herrschten und von wo aus sie zur Sternseite zurückgekehrt waren. Und wenn dieser Fluss für die Thyre eine Straße darstellte, der sie zu Fuß und mit Booten von Kolonie zu Kolonie über die gesamte Länge seiner vielen Meilen zu folgen vermochten, so konnte auch Nathan sie beschreiten ...
Ein Sonnauf folgte dem nächsten. Nathans Arbeit in der Höhle der Uralten stand kurz vor der Vollendung. Er sagte den Fünf, dass er weiterziehen wolle, und sie verpflichteten ihn zur Verschwiegenheit. Er versprach, dass er, ganz gleich, was die Zukunft bereithielt, seinen Brüdern in der Außenwelt nichts von dem sagen würde, was er von den Thyre und ihrer Lebensweise erfahren hatte.
In der Zwischenzeit hatten sich seine Albträume nicht gebessert; sie waren sogar schlimmer geworden. Wieder und wieder durchlebte Nathan die höllische Nacht und den Morgen in Siedeldorf, als die Wamphyri gekommen waren. Außerdem war ihm bewusst, dass die Zeit verstrich, und er fragte sich, wie es wohl Lardis und den Szgany Lidesci ergehen mochte. In der Höhle der Uralten spürte er oft, wie seine Wölfe ihn zu erreichen versuchten. Aber sie waren weit entfernt, und er wurde von dicken Felswänden abgeschirmt. Und was hätten sie ihm schon sagen können bis auf – wahrscheinlich – Dinge, die er nicht hören wollte? Denn mittlerweile waren die Wamphyri gewiss wieder mächtig geworden und suchten die gesamte Sonnseite wie eine Seuche heim.
Einmal – dieses Mal aus eigenem Antrieb – schlief er in der Höhle der Uralten ein und träumte, dass der Zahlenwirbel
auf ihn wartete. Beharrlich zerrte der gewaltige, bodenlose Mahlstrom der Zahlen an ihm, und er hatte das Gefühl, dass sie ihm, wenn er nur die Bedeutung dieser sich rasch wandelnden Zeichen erkannte ... sogar neue Welten zu erschließen vermochten. Jede Welt war besser als die, welche er hinter sich ließ, wenn sie ihm nur gewährte, dass er unter seinesgleichen leben konnte. Und wieder kam er sich wie ein Verräter vor, der die Flucht ergriffen hatte vor seinen Feinden, seinen Freunden und vor sich selbst ...
Und nun musste er wieder fliehen, eine größere Entfernung zwischen sich und die Vergangenheit legen und nach einer schattenhaften Erfüllung jagen, die gleich hinter der nächsten Ecke des nächsten Tages liegen mochte ...
In der Höhle der Uralten verabschiedete er sich. Die Toten schwiegen eine Zeit lang. Sie würden ihn vermissen. Aber ... er würde doch eines Tages zurückkehren, oder? Das konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, hielt es jedoch für möglich. Nun, sie hatten ihren gerechten Anteil an ihm gehabt, und die Toten an anderen Orten sehnten sich danach, mit ihm zusammenzutreffen.
Nathan sprach mit Shaeken. Da sie so innig zusammengearbeitet hatten, hatte sich ein festes Band zwischen ihnen gebildet, eine warme Freundschaft und ein gegenseitiges Einvernehmen. »Eines Tages werden deine Werke den Thyre zum Segen gereichen«, sagte er zu dem großen Baumeister.
Ohne dich wären sie nichts, Nathan. Shaeken war geschmeichelt. Doch gleich darauf fuhr er in weit ernsterem
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