DÄMONENHASS
Nathan sich besinnen konnte, nichts über ein körperliches Ungemach.
Die Sonne geht auf und wieder unter, so hatte Thikkouls Lesung gelautet, und Sonnaufs folgen rasch aufeinander, während du ein großes finsteres Schloss mit vielen Höhlen durchwanderst. Ich sehe dein Gesicht: die eingefallenen Augen, das ergrauende Haar?
Nun, die letzten Worte klangen nicht erfreulich, zugegeben. Aber da Nathan nun schon einmal hier war, was hatte er da zu verlieren? Nicht viel, denn in Turgosheim galt sein Leben wahrlich nichts; dennoch gab es gewisse Interessen, die er zu schützen hatte. Beispielsweise sein Wissen über die Thyre, ihre geheimen Stätten in und unter der Wüste, ebenso seine Kenntnisse über die Alte Sonnseite, wo Wratha und ihre Abtrünnigen (und binnen Kurzem auch die Vampire von Turgosheim) seinem Volk das antun würden, was sie hier angerichtet hatten. Nichts von diesen für die Wamphyri nützlichen Kenntnissen durfte er offenbaren, wenn er es vermeiden konnte.
»Warum fliegen wir nicht zur Runenstatt?«, fragte er Maglore, als sie eine schwankende Brücke aus Sehnentauen und hohen, geschwungenen Knorpelbögen überquerten. »Hast du keine Flieger?«
»Doch, ich habe einen«, antwortete Maglore und warf ihm einen neugierigen, vielleicht auch nachsichtigen Blick zu. »Er ist gerade im Einsatz; einer meiner Leute fliegt einen mürrischen Burschen aus Kehrlszacke nach Runenstatt. Aber Flieger sind etwas für die jungen Lords, mein Sohn, und für die Generäle zum Ausreiten und Befehligen ihrer Heere. Nun ja, meinerzeit habe ich schon den ein oder anderen Flieger erschaffen, aber für gewöhnlich ziehe ich es vor, zu Fuß zu gehen. Wenn es mir also möglich ist, gehe ich zu Fuß, aber wenn der Weg zu steil oder zu weit ist, fliege ich. Ich hege eine Abneigung gegen große Höhen, denn die Schwerkraft ist eine sonderbare und beharrliche Macht. Ich bin niemals aus eigener Kraft geflogen, wie es gewisse Lords gerne tun, denn das erfordert eine gewaltige Kraft, und mein Leib ist leider vergleichsweise hinfällig.« Allerdings ließ er sich nicht weiter darüber aus.
Sie hatten die Mitte der Brücke erreicht. In der finsteren, breiten Schlucht schimmerten die Lichter und glühenden Gaswolken einiger Türme gewissermaßen auf Augenhöhe. Mehr als eintausend Fuß unter ihnen verloren sich die Tiefen von Turgosheim in dunklen, samtenen Schatten. Maglore hielt inne, zog seinen Schützling an sich und lehnte sich mit einem Arm um seine Schulter über den gewellten Knorpelrand der Mauer, um hinabzublicken. Hinter Nathan und Maglore wartete stumm, jedoch wachsam ein Vampirknecht des Magiers.
»Was das Fliegen betrifft«, sagte Maglore leise und mit rauer Stimme, wobei er aus blutroten Augen einen raschen Seitenblick auf Nathan warf, »kannst du dir vorstellen, von hier aus zu fliegen? In die Luft hinauszuspringen und dein Fleisch dazu zu zwingen, sich in gespannte Flughäute wie die einer Fledermaus zu verwandeln? Damit die Aufwinde von Turgosheim einzufangen und von Gipfel zu Gipfel zu schweben? Ach, welch eine Kunst wäre das doch! Zwar habe ich sie nie angewendet, aber sie ist mir zu eigen, denn ich bin ein Wamphyri. Wahrscheinlich könnte ich es sogar jetzt tun, trotzdem es mir an jener besonderen Kraft ermangelt, die mir nur durch ... einen gewissen Lebensstil zu Gebote stehen würde. Du jedoch – du würdest wie ein Stein hinabstürzen und wie ein Ei zerschellen ...«
Maglore zog Nathan mit einem Arm an sich, der sich wie ein Schraubstock um seine Schultern legte. Nathan spürte die entsetzliche Kraft des anderen und dachte für einen Moment schon, dass er beabsichtigte, ihn hochzustemmen und in die Tiefe zu stürzen. Trotz des Gejammers über seinen ›schwächlichen Leib‹ war der Vampir-Lord dazu ganz leicht in der Lage. Nathan blickte in sein grässliches Gesicht, das ihm so nahe war – dieses uralte, böse Antlitz, zerfurcht wie altes Leder; die weißen Augenbrauen, die zu den geäderten Schläfen unter dem mit fahlen Haarbüscheln bedeckten Schädel spitz zuliefen; die dunkelroten Augen, die tief in dunkelvioletten Höhlen lagen –, und versuchte keine Furcht zu empfinden. Vielleicht spürte Maglore Nathans Mut, seine Entschlossenheit, und vielleicht bewunderte er dies.
Jedenfalls entließ er ihn aus seinem Griff und sagte: »Geh voran, überschreite die Brücke, und ich folge dir.« Und als Nathan sich in Bewegung setzte, wiederholte Maglore in leichterem Ton: »Oh ja, Fliegen erfordert eine große
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