Dämonenherz
Menschen mitziehen. Sie hatte keinen Blick für die Schaufenster und ihre Auslagen. Auch die zahllosen Restaurants und Cafés lockten sie nicht. Schließlich setzte sie sich auf eine Bank an einem Brunnen und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte.
Ins Hotel zurückkehren würde sie auf keinen Fall. Jemand hatte sie verfolgt, das war sicher. Irgendetwas an dem Mann kam ihr bekannt vor, und das lag nicht an seiner Kleidung. Sie hatte ihn schon einmal gesehen. Wahrscheinlich lag er jetzt auf der Lauer und wartete auf sie. May Ling wusste, wo sie abgestiegen war. Auch wenn der Mandarin wohl nichts gegen die Boten der Verträge hatte, über den Weg traute sie ihm und seiner Truppe deshalb noch lange nicht. Zumal der Goldene Drache auch kein Restaurant war, sondern offenbar der Sitz der chinesischen Stahlindustrie. Anna hatte keine Vorstellung, wie die aussehen sollte. Aber ein uriges Schweizer Fachwerkhaus, das zudem wenige Minuten später wie vom Erdboden verschluckt war, hätte sie bestimmt nicht erwartet. Was ging hier vor? Und hatte Weller eigentlich mit allen hübschen Frauen geschlafen, denen er begegnet war?
Anna kämpfte ihre Eifersucht nieder. Du darfst mich nicht lieben. Noch immer machte dieser Satz sie wütend. Genauso wütend wie überschlanke, zierliche Frauen, die Weller wohl ganz anders in Erinnerung hatten als sie. Nicht lieben. Der ehrenwerte Herr Weller machte ihr seine Forderung verdammt leicht.
Schräg gegenüber flackerte die Leuchtreklame eines kleinen Hotels auf. Zum Zehnerbrünnli hieß es und hatte sogar zwei Sterne. Es sah nicht so aus, als ob es jemals in einer der Hochglanz-Broschüren für Touristen auftauchen würde. Anna begann, die Passanten zu beobachten. Nach zehn Minuten war sie sich sicher, dass niemand sie verfolgte. Sie ging in die Rezeption, erhielt einen einfachen Schlüssel für ein noch einfacheres Einbettzimmer, und als sie ihn im Schloss umdrehte und sich auf das durchgelegene Bett warf, fühlte sie sich zum ersten Mal, seit sie die Schweiz betreten hatte, wieder sicher.
Der nächste Tag hielt für Anna mehrere unangenehme Überraschungen bereit. Sie hatte die Frühmaschine nach Frankfurt genommen und war danach nur kurz nach Hause gefahren. Auf dem Anrufbeantworter hatte sie eine Nachricht von Vicky vorgefunden, die ihr kurz und knapp mitteilte, dass sie an diesem Tag ihr Büro räumen würde. Sie beschloss, auf dem Weg zu Wellers Hauptquartier in ihrer Agentur vorbeizufahren – komme, was wolle. Wenn sie Vicky schon nicht per Telefon erreichte, dann könnte sie die Freundin vielleicht noch beim Kistenpacken überraschen.
Sie wählte die seriöseste Kombination, die ihr Kleiderschrank zu bieten hatte: eine weiße, hochgeschlossene Bluse zu einem dunkelgrauen Kostüm. In Wellers Firma schien ein helleres Grau schon ein Zeichen von zügelloser Lebensfreude zu sein. Ihre Haare kämmte sie glatt aus dem Gesicht und klemmte sie mit zwei Spangen hinter den Ohren fest. Dann kontrollierte sie nocheinmal Sitz und Perfektion ihrer Nylons, wählte ein paar mittelhohe Pumps und machte sich auf den Weg.
In weniger als einer halben Stunde hatte sie ihr altes Büro erreicht. Aber Vicky war nirgendwo zu finden. Dafür stapelten sich im Büro ihrer Freundin die Umzugskisten. Ratlos sah Anna sich um. Ihr eigenes Zimmer schien unberührt. Der Blumenstrauß auf ihrem Schreibtisch sah aus wie gestern gepflückt. Dabei hätte er schon längst vertrocknet sein müssen. Vielleicht hatte Vicky ihn ausgetauscht? Sie ging in die kleine Teeküche. Gerade wollte sie die Kaffeemaschine anstellen, als sie hörte, wie sich ein Schlüssel in der Eingangstür drehte.
»Vicky?«
Keine Antwort. Vielleicht hatte sie sich ja getäuscht. Sie holte eine Tasse aus dem Schrank und entdeckte gleichzeitig eine noch nicht angebrochene Dose Büchsenmilch. Wieder hörte sie ein Geräusch. Es klang wie ein leises, weit entferntes Rascheln.
»Vicky?«
Die Büchse wie eine Waffe in der Hand, trat Anna in den Flur. Jemand war in ihrem Büro und wühlte in ihren Papieren. Leise schlich sie sich an und lugte um die Ecke.
»Vicky!«
Ihre Freundin sah kurz hoch, ohne die mindeste Spur von schlechtem Gewissen. In der einen Hand hielt sie die Akte aus Zürich, in der anderen ein Vanillecroissant mit Puderzucker, der bereits den halben Schreibtisch bestäubt hatte.
»Hallo, Anna! Ich wollte nur mal kurz vorbeischauen. Was ist denn das hier?«
Ihr Lächeln war immer noch so offen, wie Anna es in Erinnerung hatte.
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