Dämonenherz
schien, als hätte Vicky auch die Fröhlichkeit und den Charme ihres Büros mitgenommen. Die Räume sahen lieblos und unaufgeräumt aus. Sogar ihr eigenes Zimmer kam Anna fremd vor. Sie ging zu dem Blumenbild von Georgia O’Keeffe und blieb lange davor stehen. Es war die billige und schlechte Kopie eines wunderschönen Originals. Wie hatte sie sich jemals daran erfreuen können? Erst als sie den Blick über ihren Schreibtisch wandern ließ, wurden ihre trüben Gedanken abgelenkt. Sie nahm den Kiesel steinin die Hand und schaute lange auf das Foto ihrer Eltern. Plötzlich kam es ihr vor, als ob der Raum heller würde. Der Stein ruhte warm und schwer in ihrer Hand. Ein matter Sonnenstrahl blinzelte durch die Wolken und malte ein zitterndes Muster an die Wand. Das Grau verschwand. Anna drehte sich um. Die Farben des Bildes leuchteten wieder genauso intensiv, wie sie es in Erinnerung hatte.
Anna schluckte. Alles war plötzlich wieder warm und vertraut. Jeden Moment würde Vicky um die Ecke kommen und fröhlich erzählen, welche Alltagskatastrophe ihr auf dem Weg zur Arbeit nun wieder passiert war. Das Telefon würde klingeln, sie würde mit Kunden reden, während Vicky die Aufträge am Computer bearbeitete. Alles wäre wieder so wie früher.
Sie ließ den Kieselstein in ihre Tasche gleiten. Dann nahm sie das Foto und legte es in ihre Aktenmappe. Ein letztes Mal sah Anna sich um, bevor auch sie ihr Büro verließ. Nichts war mehr so wie früher. Sie hatte ihre Freundin verloren. Das war schlimm. Doch auf dem Weg hinunter zu ihrem Wagen fiel ihr ein, was noch schlimmer war. Der verräterische Glanz in Vickys Augen waren keine Tränen gewesen, sondern ein tiefes grünes Glühen.
14 .
D ieses Mal wurde Anna nicht nach ihrem Begehr gefragt. Die Dame am Empfang wusste wohl genau, wer sie war. Sie schenkte ihr ein freundliches Nicken und überreichte ihr dann ein kleines Plastikkärtchen mit Annas Namen, das sie sich an den Kragen ihres Blazers heftete. Sie wurde freundlich gegrüßt, als sie im Fahrstuhl in den fünfunddreißigsten Stock fuhr und Kollegen hinzu- oder ausstiegen. Fünf Etagen vor ihrem Ziel verließen die Letzten die Kabine. Bis ganz nach oben blieb Anna allein.
Sie spürte, wie sie wieder nervös wurde. Dafür gibt es gar keinen Grund, beruhigte sie sich. Du hast deinen Job ohne Probleme erledigt. Das soll dir erst einmal einer nachmachen: In einer fremden Stadt verfolgt werden, die chinesische Stahlindustrie zufriedenstellen und schließlich so unauffällig untertauchen, dass niemand dich findet.
Allerdings, so setzte sie in Gedanken hinzu, gibt es keine Stellenausschreibung, in der unauffälliges Untertauchen zu den Anforderungen gehört. Und es verrät einem auch keiner, wie man mit dem Verlust einer Freundin umgeht.
Der junge Mann, der sie bereits bei ihrem ersten Besuch abgeholt hatte, erwartete sie auch dieses Mal. Er musste informiert worden sein, denn er schaute gar nicht erst auf ihren Hausausweis, um sie willkommen zu heißen.
»GutenTag, Frau Sternberg. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise.«
»Danke, die hatte ich, Sam. Ist Herr Weller schon da?«
»Er befindet sich noch im Ausland. Deshalb darf ich Ihnen Ihr Büro zeigen.«
Anna versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie kam von ihrem ersten Einsatz zurück, und dann wurde sie noch nicht einmal erwartet.
»Wann kommt er denn wieder?«
»Darüber bin ich leider nicht informiert. Hier entlang, bitte.«
Sam öffnete eine Tür und präsentierte Anna einen hellen Raum mit Aussicht auf das südliche Frankfurt.
»Gefällt es Ihnen?«
Hellblauer Teppichboden, weißglänzende Schrankwand, aluminiumverkleidete Wände. Ein leerer Schreibtisch, darauf ein sündhaft teuerer, ultradünner Flachbildschirm.
»Ja, danke. Sehr.«
»Dann noch einmal herzlich willkommen.«
Der junge Mann wandte sich zum Gehen, aber Anna hatte noch eine Frage.
»Ich habe einige wichtige Dokumente bei mir, die ich Herrn Weller persönlich übergeben muss.«
»Oh. Was denn für Dokumente?«
Das Interesse erwachte so plötzlich im Gesicht ihres Gegenübers, dass Anna bereute, das Thema überhaupt angesprochen zu haben.
»Wichtige Dokumente, sagten Sie?«
»Nein. Nicht so wichtig. Danke.«
Sichtlich enttäuscht verabschiedete sich der junge Mann und ließ Anna in ihrem neuen Büro zurück. Vorsichtig setzte sie sich auf den funkelnagelneuen Armlehnstuhl. Weißes Leder ohne den winzigsten Fleck oder Kratzer. Auch der Rest der ziemlich kargen
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