Dahoam is ned dahoam - Bayerische Ein- und Durchblicke
wie Zeitmaschinen
Auf dem Weg zum Frühstück wandert der Blick im Treppenhaus über ausgeblichene, kaum mehr entzifferbare Erinnerungswimpel von Sportvereinen aus Orten, deren Namen man noch nie gehört hat, hin zu verstaubten Strohblumengestecken vor dicken Glasbausteinen und halb aus ihren Passepartouts gerutschten Fotos fröhlicher Reisegruppen. Bildunterschriften erklären sie uns als den »Pyjamaball der Würzburger« oder den »Oberpfalz-Ausflug der Berliner Verkehrsbetriebe«. Fast alle dieser Gruppen hatten, den Jahreszahlen unter den Fotos nach zu urteilen, ihre Blütezeit vor der letzten Jahrtausendwende. Der Wirt unten in der Gaststube erinnert sich noch lebhaft und ein wenig wehmütig an die Zeiten, in denen die Oberpfalz das direkt hinter dem Staatsgebiet der DDR gelegene Naherholungsgebiet der Westberliner und sein Hotel bei dieser Klientel heiß begehrt war.
In einem Frühstücksraum, der noch den Renovierungsimpetus der 70er-Jahre atmet, verzehren wir an schweren Tischen Dinge, die es anderswo schon seit Jahrzehnten nicht mehr gibt: Obstsalat aus der Dose mit rot leuchtenden Cherry-Kirschen, Schmelzkäse-Ecken, die sich nur mühsam von ihrer Goldpapierhülle trennen lassen, und Semmeln wie Panzerkrebse, die beim Aufschneiden laut knacken und deren flaumig-weiches Inneres man als weißen Mehlbausch neben die braun gebackene Teigschale auf den Teller legen kann. Gegen diese gastronomische Zeitreise verblasst das Frühstücksbüffet eines jeden Luxushotels zu einem modernen Spuk international austauschbarer Beliebigkeit.
Nach dem Frühstück unternehmen wir frisch gestärkt einen Spaziergang, der uns hinüber zur Pfarrkirche des Ortes führt. »Zuletzt renoviert 1973«, verkündet stolz eine Tafel neben dem Eingang. Kaputt renoviert, würde man sich beim Anblick des Kircheninneren normalerweise denken, aber hier stört es einen nicht, dass die Wände mit Fresken bemalt sind, die sich ein Kinderbuchillustrator der 50er-Jahre ausgedacht haben könnte, dass der Beichtstuhl aussieht wie eine Schrankwand von Möbel Mahler (»Beichtgelegenheit mit Blickkontakt zum Pfarrer« preist ein geprägtes Messingschild an), und dass ein seines Altarumfelds beraubter Sankt Emmeram mitsamt seinen goldenen Barockengerln an der öden, weiß getünchten Kirchenwand so verloren wirkt wie ein Goaßlschnalzer auf dem leeren Parkplatz eines Supermarkts. Während wir unsere Runde durch die Kirche drehen, kümmert sich eine rüstige Mesnerin um den Blumenschmuck für die Erstkommunion am morgigen Sonntag. Auch dem heiligen Emmeram legt sie ein paar weiße Rosen zu Füßen, als wolle sie damit ein wenig seinen blutigen Armstumpf kompensieren. Aber jagt der in einer Zeit, in der bei jedem besseren Kettensägen-Massaker-Film die Gliedmaßen gleich dutzendweise abgetrennt werden, noch einem Kommunionkind einen Schauder über den Rücken?
Als wir die Kirche durch einen Seitenausgang verlassen, entdecken wir ein Schild mit der ebenso verlockenden wie verblüffenden Aufschrift »Zur Lourdesgrotte«. Wir folgen ihm und gelangen zu drei Garagen unterhalb des Kirchbergs, von denen die mittlere mit einem Kruzifix über dem Tor geschmückt ist.
Voller gespannter Erwartung öffnen wir das nur angelehnte Garagentor und stehen nicht vor einem der in diesem Landstrich so zahlreichen SUVs tschechischer Herkunft, sondern vor dem Wunder von Lourdes in seiner Oberpfälzer Ausformung.
Die Heilige Jungfrau – mit ihren knapp einen Meter zwanzig entweder ein geschrumpfter Klon ihres großen Vorbilds in der Pyrenäenstadt oder in Fernost produzierte devotionale Massenware – wird von einer zweiten, knienden Figur angebetet, die wohl die Lourder Bernadette darstellen soll. Daneben sprudelt aus einem Zimmerspringbrunnen Waldnaabtaler Lourdes-Wasser, dessen Heilkraft auf den ersten Blick eher zweifelhafter Natur zu sein scheint. Der Brunnen wird – ebenso wie die stimmungsvolle Beleuchtung dieser zum Heiligtum umgewidmeten Kfz-Behausung – durch einen versteckten Bewegungsmelder eingeschaltet, was in uns sofort den Verdacht weckt, dass es sich hier auch um ein mehrteiliges Lourdes-Set aus einem Baumarkt handeln könnte, komplett mit Bewegungsmelder und Sicherheitssiegel vom TÜV Rheinland – ideal für die private Andacht in Haus und Garten.
Lourdesgrotte – Eintritt frei
Uns lädt der fromme Ort aus anderen Gründen zum Verweilen ein – als ad hoc gegründete Authentizitätsprüfkommission unterziehen wir diesen … nun, sagen wir es
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