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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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doch mit ihr raus!
    Debbie, ich bin wahnsinnig müde und muss heute Abend wieder fit sein.
    Ja, ja. Deine blöden Ausreden.
    Irgendjemand muss das Geld verdienen, okay?
    Genau! Dann bleib du zu Hause, und ich geh arbeiten! Ich find schon was!
    Als Friseurin ohne Gesellenbrief (die Geburt war dazwischen gekommen) würde sie bestimmt nichts finden, was eine dreiköpfige Familie ernährt hätte. Doch wenn er ihr das zu bedenken gab, rastete sie jedes Mal vollkommen aus.
    Also hatte er nichts gesagt, sich stattdessen ruhelos im Bett gewälzt und war schließlich gegen vier Uhr nachmittags todmüde aufgestanden und mit dem Baby auf dem Arm den Flur auf und ab gewandelt. Auf und ab, auf und ab. Das half zumindest für eine gewisse Zeit. Sandy hatte währenddessen einen kurzen Mittagsschlaf gehalten: Auch sie war erschöpft, er wusste, wie sehr. Das Baby wachte immer mehrmals pro Nacht auf, und er war nie da, um ihr zur Seite zu stehen. Es war auch für sie nicht leicht.
    Nein, es war sogar schwerer für sie als für ihn. Denn sie besaß nicht, was er hatte: bei all dem höllischen Stress einen Beruf, der ihm viel mehr Spaß machte, als er ihr jemals eingestanden hätte. Er brauchte diesen Job. Er hätte es nicht ausgehalten, jeden Tag von neun bis fünf in einem Büro zu verbringen. Und da er das wusste, und da er glaubte zu wissen, dass Sandy es zumindest ahnte, hatte er ein chronisch schlechtes Gewissen. Das wiederum spürte Sandy, und es gab ihr Oberwasser in fast allen Auseinandersetzungen. Und dennoch blieb sie de facto die Verliererin. Sie war zu Hause angebunden, nicht er. Und so würde es immer sein, weil sie nie genügend beruflichen Erfolg haben würde, um diesem Teufelskreis zu entkommen: Er war derjenige, der das Geld heranschaffte. Er war frei, zu kommen und zu gehen. Sie nicht. Für Jahre nicht, egal was passierte.
    Gefangen in der Kinderfalle , dachte er mit einem Anflug von Mitleid und nahm ihre Hand. Die halb ausgetrunkene Tasse stellte er auf dem Boden ab. Das Fieber machte ihn seltsam hellsichtig; er hatte plötzlich eine Vision von Sandy in zehn, fünfzehn Jahren. Ihre runden, blassen Wangen würden ein wenig hängen, ihre Kinnlinie wäre nicht mehr so gerade und ihre zarte, kleine Nase breiter als jetzt, denn Nasen wurden breiter mit den Jahren, er hatte das bei seiner Mutter gesehen. Insgesamt wäre ihr Gesicht gröber und härter, die beiden jetzt schon ausgeprägten Falten zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln tiefer. Er schloss kurz die Augen, um die Fantasie zu verscheuchen.
    »Geht’s dir schlechter?«, fragte sie sofort mit einem besorgten, zärtlichen Tonfall, der ihm unerwartet gut tat. Er öffnete die Augen wieder und schüttelte lächelnd den Kopf.
    »Ich bin nur müde, glaub ich.«
    »Willst du schlafen?«
    »Es ist doch noch früh.«
    »Na und?« Sie lächelte auch. Ihre langen blonden Haare schimmerten im Licht der Nachttischlampe, und plötzlich fand David sie wieder so schön wie früher, als sie sich ineinander verliebt hatten.
    »Ich kann doch noch gar nicht schlafen um die Zeit. Ich komm völlig aus dem Rhythmus...«
    »Ja, ja.«
    Und im selben Moment spürte er, wie ihm die Lider – endlich! – schwer wurden. Das Baby schlief, jedenfalls hoffentlich die nächsten paar Stunden, und er musste diese Chance wahrnehmen. Sein Kopf fühlte sich tonnenschwer an und gleichzeitig leicht wie ein Luftballon, aber der Schlaf kam dennoch und war ein sehr willkommener Gast. Er spürte kaum noch, wie Sandy ihre Hand aus seiner löste, langsam aufstand und auf Zehenspitzen das Schlafzimmer verließ, um, wie fast jeden Abend, allein im Wohnzimmer fernzusehen.

12
    Mittwoch, 16. 7., 12.43 Uhr
    Bei einer Durchschnittstemperatur von zwanzig bis fünfundzwanzig Grad dauert es etwa drei Tage, bis der Verwesungsgrad einer Leiche so weit fortgeschritten ist, dass der Geruch auch außerhalb einer verschlossenen Wohnung wahrnehmbar ist. Oft vergehen dann noch ein paar weitere Tage, bis jemand den Hausmeister alarmiert, der dann meist sofort die Polizei anruft. Denn kaum ein Mensch hat den Mut, den zu erwartenden desaströsen Anblick allein zu verkraften.
    In diesem Fall dauerte es länger. Das lag daran, dass viele Bewohner im Urlaub waren; zufälligerweise war also genau das Stockwerk, in dem die Tote wohnte, wochenlang fast verwaist. Eine vierundzwanzigjährige Studentin, die eine Woche Billigferien in Agadir inklusive Durchfall und Fieber hinter sich hatte, bemerkte bei ihrer Rückkehr den mittlerweile

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