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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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Seele. Der einzige mögliche Trost. Man musste auf ihn zurückgreifen, besonders in ihrem Job, sonst wurde man wahnsinnig.
    »Gucken Sie doch mal hin!«, drängte Wagner. Sie sah ihn kurz an (er hatte blaue Glubschaugen mit hellen, fast durchsichtigen Wimpern, fiel ihr bei der Gelegenheit auf) und warf dann einen Blick auf den Bauch der Frau. Er war von Fäulnisgasen aufgebläht wie ihr Gesicht und von dunklen Adern durchzogen. Aber das war es nicht, was Wagner gemeint hatte.
    Jemand hatte fünf, sechs Zentimeter hohe Buchstaben in die Haut des Unterleibs geritzt. Sie sahen nicht so auffällig aus wie bei Samuel Plessen, weil die Haut dieses Opfers bereits stark verfärbt war. Außerdem hatten die Gase im Inneren des Körpers die blutverkrusteten Buchstaben so auseinander gezogen, dass sie fast wie Risse aussahen. Und dennoch war das Wort – denn es war eins – gut lesbar.
    DAMALS.
    WARST und DAMALS.
    »Das ist ja wie bei dem... wie hieß er noch...«
    Die rechte Hand. Sie umfasste etwas. Mona wies Wagner darauf hin. Er öffnete die Hand vorsichtig. Etwas Schwärzliches lag darin, das vielleicht einmal eine Zunge gewesen war.
    »Tja«, sagte Wagner.
    »Ja«, sagte Mona leise und stand auf. »Sie können die Leiche ins Institut bringen lassen. Ich melde mich dann bei Herzog.«
    Wagner nickte und erhob sich ebenfalls.
    Beide überließen das Feld den Tatortleuten und begaben sich nach draußen, wo sie erleichtert die schweißtreibenden weißen Einweg-Overalls abstreiften und vor der Tür liegen ließen.
    »Fahren Sie nicht mit dem Lift?«, fragte Wagner.
    Mona winkte ab. »Ich geh zu Fuß.«
    Sie lief nach unten, wo der Hausmeister wartete, der nach Schnaps stank und sich geweigert hatte, den Tatort ein zweites Mal zu betreten. Was Mona gut verstehen konnte. Sie hatte schon so viele Leichen gesehen, dass sie sie nicht mehr zählen konnte, und dennoch würde sie sich nie wirklich an den Anblick gewöhnen. Am Anfang hatten all die Toten sie nachts heimgesucht, in schauerlichen Träumen, die von Vergänglichkeit und Vergeblichkeit handelten. Jetzt blieb nach jedem weiteren Mordfall, ob gelöst oder zu den Akten gelegt, ein Gefühl zurück, das sich nie zur Gänze verflüchtigte und nur schwer benennen ließ. Es lähmte Bewegungen und verlangsamte Reaktionen. Es war wie ein Schatten, der helle Tage verdunkelte und Freude nicht mehr aufkommen ließ.
    Mona traf den Hausmeister – er hieß Friedrich Brennauer, seit zwei Jahren geschieden, ohne Kinder – auf einem beigebraun gemusterten Sofa in seinem Wohnzimmer an, wo er schwitzend und trübsinnig vor sich hin starrte, bewacht von einem hübschen, blonden Polizisten, dem Mona die Weisung gegeben hatte, Brennauer vom Alkohol fern zu halten, bis die Vernehmung über die Bühne war. Offenbar war das nicht hundertprozentig geglückt. Brennauers Gesicht war gerötet, die dünnen, grauen Haare klebten an seinem dicken Schädel. Er stank nach Schnaps.
    Herzinfarktkandidat, dachte Mona. Ich muss aufpassen. Sie setzte sich neben ihn. Das Sofa dünstete jahrzehntealte Küchengerüche aus.
    »Wie kommen Sie zurecht?«, fragte sie.
    Brennauer starrte vor sich hin, ohne zu antworten. Sein Elan von vorhin war verschwunden, und er wusste nicht wohin. Jetzt schob sich der Anblick der Leiche wie eine Fratze vor sein inneres Auge, und er hatte plötzlich Angst, dass sie ihn auch künftig begleiten würde: die tote Frau, die keinerlei Ähnlichkeit mit Sonja Martinez hatte, obwohl es Sonja Martinez sein musste.
    »Herr Brennauer?«
    Schließlich wandte er Mona sein Gesicht zu. Sein Mund stand offen, und er atmete schwer.
    »Mir geht’s nicht gut, Frau...«
    »Seiler. Kriminalhauptkommissarin. Ich...«
    »Mir geht’s nicht gut.«
    »Das versteh ich. Es wäre trotzdem gut, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stellen könnte.«
    »Muss das jetzt sein? Mir...«
    »Eigentlich schon. Leider. Wissen Sie, die Frau liegt schon recht lange da oben...«
    »Erinnern Sie mich bloß nicht! Mir wird gleich wieder schlecht!«
    »Tut mir Leid, aber...«
    »Sie stinken auch danach! Nach dieser...«
    »Herr Brennauer, ich kann Sie auch vorladen. Dann müssen Sie extra ins Dezernat 11 am Hauptbahnhof kommen. Wollen Sie das?«
    Brennauer überlegte. Sein kariertes Hemd, seine beige Arbeitshose – alles war getränkt mit Schweiß. Seine Stirn war nass, sein Gesicht glänzte. »Nein«, sagte er.
    »Dann machen wir’s schnell hier. Okay?«
    »Von mir aus.« Brennauers Stimme war tief und kehlig, insgesamt fand sie

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