Damals warst du still
als sei der Rauch Nahrung für ihn. »Nachdem sie in der Zeitung war.« Der Polizist kam wieder herein und nahm seinen Posten am offenen Fenster ein.
»Was? Welche Zeitung?«
»Abendzeitung. Die les ich jeden Tag. Und da war sie drin. Mit Foto.«
»Wieso? Ich meine, worum ging’s da? In dem Artikel?«
»Weiß nicht mehr.«
»Aber Sie wissen noch, dass sie drin war? In der AZ meine ich.«
»Ja, sicher, wegen dem Foto von ihr. Ich hab sie gleich erkannt. Und dann hab ich sie auf dem Flur getroffen und drauf angesprochen.«
»Was hat sie gesagt?«
Brennauer drückte sein Zigarillo aus und strengte sichtlich seinen Kopf an. Er sah etwas weniger ungesund aus, vielleicht weil er für eine Minute an die lebende Sonja Martinez dachte, nicht an die tote.
»Weiß nicht mehr genau.«
»So ungefähr?«
Brennauer dachte wieder nach. »Sie hat komisch geschaut. So als ob ihr das gar nicht recht wäre. Das mit der Zeitung und ihrem Bild darin und so. Sie hat eigentlich gar nichts gesagt. Oder nur wenig.«
»Und Sie haben sie gar nichts gefragt?«
»Wieso? Wenn die nicht reden will?«
»Auch wahr«, sagte Mona und beschloss, das Ganze zu beenden. Den Artikel über Sonja Martinez zu finden, würde kein Problem sein. »Also wann ist das jetzt gewesen? Das mit dem Artikel? Wann stand der in der AZ?«
»So vor zwei Wochen. Nageln Sie mich nicht fest, also...«
»Ja, ist ja gut.«
14
Mittwoch, 16. 7., 14.30 Uhr
Der Artikel war vom vierten Juli, also zwölf Tage alt, er stand im Lokalteil, und die Titelzeile lautete: »Wahnsinniger Psychiater befiehlt Frau, ihre Familie zu verlassen!« Der »wahnsinnige Psychiater« war Fabian Plessen. Er wurde mit der Äußerung zitiert, dass er generell niemals vertrauliche Informationen seiner Patienten an die Öffentlichkeit bringen würde, dass er aber so viel zu den Vorwürfen sagen könne: Frau Martinez habe ganz offensichtlich etwas vollkommen falsch verstanden, und falls das so sei, tue ihm das sehr, sehr Leid. In einem weiteren Zitat bat Plessen ausdrücklich darum, dass sich Frau Martinez bei ihm melden solle, um dieses Missverständnis zu bereinigen. Der Artikel war namentlich gezeichnet, der Autor hieß Stefan Heitzmann.
»Wir laden ihn vor«, sagte Mona zum Rest der MK 1. Sie saßen im Konferenzraum, Berghammer war diesmal nicht dabei. Es war nach zwei, und Mona hatte seit morgens um sieben nichts gegessen außer zwei Kugeln Schokoladeneis in der Waffel. Sie gähnte.
15
1983
Der Junge war gut in der Schule, machte seine Hausaufgaben vorbildlich, gab nichts Republikfeindliches von sich. Er nahm brav an den Treffen der jungen Pioniere teil, obwohl das seine freie Zeit noch mehr einschränkte. Er fiel nicht weiter auf, obwohl er keine Freunde hatte, nicht einmal lose Bekannte, mit denen er ab und zu etwas unternahm: Er erfüllte alle formalen Rahmenbedingungen, die der Staat seinen Bürgern abverlangte, und mehr interessierte den Staat nicht. Das Gesicht des Jungen war hager geworden und hatte die frühere Lieblichkeit verloren. Seine Haare waren nicht mehr fein gelockt, sondern dick und strohig, seine Augen blickten ständig in eine andere Richtung. In sich trug er Wünsche und Begierden, Träume und Vorstellungen, die er mit niemandem teilen konnte: Jemanden ins Vertrauen zu ziehen, um auf diese Weise vielleicht einen Gefährten zu finden, war einfach zu riskant.
Der Junge war alt genug, um zu verstehen, dass es in seiner engeren Umgebung niemanden gab, der so war wie er. Was er dachte und fühlte fanden andere entsetzlich und abstoßend, das wusste er. Aber für ihn waren seine Gefühle in Ordnung, er kannte ja keine anderen. Sie verängstigten ihn manchmal wegen ihrer Kraft und Vehemenz, die oft etwas Befehlendes an sich hatte. Aber er wäre nie auf die Idee gekommen, ihnen nicht Folge zu leisten: Was sein musste, musste sein.
An den freien Wochenenden streifte er durch die Natur und beobachtete die Reiher, die im Schilf des Sees nisteten. (Sollte er eines Tages zur Volksarmee gehen, würde er ein Gewehr bekommen, das er heimlich mitgehen lassen konnte. Dann könnte er die Reiher abschießen; er freute sich auf diesen Moment.) Es gab so viele Tiere in dieser Gegend, aber sie waren so schwer zu fangen und zu töten. Nur Mäuse und Ratten hatte er bisher erwischt und einmal einen jungen Hund. Die Nachbarn hatten ihn ihrer kleinen Tochter geschenkt, die bitterlich weinte, als der Hund, den sie Dago getauft hatte, nicht mehr aufzufinden war. Dem Jungen gefiel die
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