Damaskus im Herzen.. - und Deutschland im Blick
Vorfahren konnten zum größten Teil nicht lesen, aber sie waren keine Analphabeten. Sie hatten durch die mündlich überlieferten Weisheiten Antworten auf die Fragen ihrer Zeit. Die neuen Analphabeten Arabiens besitzen weder die Poesie der Erzählkunst, noch besitzen sie genügend entwickeltes Vokabular, um der Zeit gerecht zu werden. Sie haben einen primitiven Bildervorrat, der nur ihre Misere und sonst nichts zum Ausdruck bringen kann. Auch Kinder und Jugendliche hier in Deutschland sind durch die Flut dieser Bilder gefährdet, aber das Buch hat hier eine lange Entwicklung und Blütezeit erlebt, ja, in den letzten drei Dekaden kann man von einer Hochkonjunktur des Buches sprechen. In Arabien hat das Lesen, hat das Buch, keinen festen Halt. Bei einem Analphabetenanteil von 50 bis 70 Prozent wird die Herrschaft durch das Bild gesellschaftlich und politisch gefährliche Folgen haben.
Doch die Feststellung, wie schlecht es woanders ist, legitimiert nicht den Schlaf der Gerechten angesichts gefährlicher Tendenzen in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Sie spiegeln den Zeitgeist. Spätestens seit dem Zusammenbruchder Ostblockländer nämlich avancierte der Islam hier im Westen zum Hauptfeind. Noch nie waren sich in diesem Land so viele Menschen aus den unterschiedlichsten politischen Lagern so einig wie in der Feindschaft gegen den Islam. Und ich als Angehöriger einer Minderheit bekomme nie so viel Angst, wie wenn sich die Mehrheit so einig ist.
Weniger gefährlich sind Moden, und zwar deshalb, weil sie eine Gnade besitzen: Sie verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Wie alle Literaturgattungen, so ist auch die Kinderliteratur nicht frei von Modeerscheinungen. Manch eine ist harmlos und bedarf nicht einmal der Erwähnung, manch eine aber hat mit dem Zustand der Gesellschaft in den Metropolen zu tun und verdient eine nähere Betrachtung.
In den Kinderbüchern der so genannten Dritten Welt finden Sie nur übersteigert schöne Bilder und Figuren, die mitten im Elend pausbackig, blauäugig und blond heile Welt suggerieren. Hier, wo die Kinder schöner als die Werbebilder sind, sind zum einen offensichtlich nur noch schräge Figuren von Interesse, und die Schrägheit ist nicht kritisch, sondern so harmlos modisch, dass sogar die Industrie sie in ihrer Werbung einsetzt. Auch die inhaltsloseste Geschichte wird schräg und skurril illustriert. Dazu gesellt sich immer mehr die Vorliebe einer übersättigten Gesellschaft für das Hässliche und Abstoßende. Bei einem der begabtesten Zeichner erscheinen die Kinder nur noch debil und gnomenhaft. Kein einziges Kindergesicht seiner vielen Bücher ist frei von offensichtlicher Idiotie, gepaart mit Verschlagenheit und Verbitterung. Als Identifikationsmodelle für Kinder halte ich diese grotesken Greise in Kinderkleidern für fragwürdig.
Das Hecheln hinter dem Ungewöhnlichen fördert Mittelmaß ans Licht. Anscheinend können sich viele Lektoren im Lärm des Einmaligen nicht mehr vorstellen, dass eine Geschichtefür Kinder leise und spannend, lustig und weise ablaufen kann. Fetzig muss es sein und schrill und schräg, aber wehe, wenn Kinder und Jugendliche im wirklichen Leben dann auch so werden.
In den letzten fünf Jahren erfuhr die Kinderliteratur der Bundesrepublik eine gewaltige Expansion. Der Kampf auf dem Markt wird härter, und da die Zahl der guten Autoren und Autorinnen aus biologischen Gründen nicht mitexplodieren kann, wird nun noch mehr Schrott auf den Markt kommen. Das wusste Walter Benjamin bereits 1931. *
Die guten Autoren, und das ist das Absurde an dieser wunderbaren Expansion, werden es nicht leichter, sondern schwerer haben, um aus der Flut der neuen Erscheinungen noch herauszuragen, und es hilft nur eins: Besser schreiben!
Bleibt am Schluss eine Frage: Was darf und soll man in Zukunft erzählen? Diese Frage meldet sich immer lauter, und die Antwort darauf wird immer schwieriger. Die letzten dreißig Jahre veränderten das Gesicht der Erde und ihrer Bewohner wie früher zwei Jahrhunderte. Viele Heiligtümer stürzten, neue tauchten aus dem Nichts auf, die Moral eilt mit hängender Zunge hinter den massiven chirurgischen Eingriffen der Elektronik an der Seele der Gesellschaft her.
Die bedrohliche Misere unserer Welt lässt das Erzählen nicht mehr zu, ohne auf Terror, Umweltkatastrophen, Diktatur, Rassismus und Krieg zu kommen. Und ich denke, man soll den Kindern von der Welt erzählen, ohne ihnen den Atem zu rauben, ihnen auch vom Krieg
Weitere Kostenlose Bücher