Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
vertraute Verdruckstheit wie bei meinem Sohn entgegen? Wäre ich manchmal nicht auch, wenn ich mich so richtig trauen würde, ganz schön aggressiv, zumindest in meinen heimlichen Gedanken? Wie war das denn vor einer Woche meinem Chef gegenüber, wenn ich da eine Pistole gehabt hätte … Über den Haufen hätte ich den geschossen! Und habe ich nicht vor einigen Tagen innerlich genickt, wie unser Sohn seine Mutter beschimpft hat, sie sei eine blöde Kuh?
Ich habe einen Vater, der seinen Sohn immer wieder demütigt mit entwertenden Bemerkungen, gebeten, einmal
darüber nachzudenken, wo es in seinem Leben Stationen der Demütigung gegeben hat. Hier das Ergebnis seiner Spiegelmeditation, einem sehr offenen Bericht über das gedemütigte Kind, das er einmal war:
»Meine Mutter wollte, nach meiner Schwester, mit der schon im Kindergarten alles super gelaufen ist, noch ein zweites Mädchen. Mädchen sind toll. Ich war kein Mädchen. Mein Vater fand es gut, dass er noch einen Jungen bekommen hatte. Doch bis ich dann mit zehn oder elf das erste Mal eine Klasse wiederholen musste, war mein Vater eben nicht so, wie man sich als Junge einen Vater wünscht. Er war mein ehrgeiziger Privattrainer, mein Privatlehrer. Er forderte ständig was. Wenn er am Abend, ich muss noch ziemlich klein gewesen sein, aus der Kanzlei nach Hause kam, ging’s auf die Wiese zum Fußballtraining. ›Zeig mal, ob du das von gestern noch kannst … He, hast du schon wieder alles vergessen! ‹ Ab der 4. Klasse, er wollte unbedingt, dass ich den Übertritt aufs Gymnasium schaffe, musste ich ihm jeden Abend die Hausaufgaben zeigen. Ich hab Bauchschmerzen bekommen, wenn ich hörte, dass unten die Haustür ging. ›Sag mal, bist du zu blöd oder was?‹ Ich hatte in Mathe ab dem Zeitpunkt die volle Sperre. Ich habe dann mit Nachhilfe den Übertritt doch geschafft. Auf jede schlechte Note kam eine Drohung. ›Ah, mein Sohn will nichts aus seinem Leben machen, interessant.‹ Meine Mutter war froh, dass sie sich nicht mit mir beschäftigen musste. Dafür war ja mein Vater da. Wie ich dann die 6. Klasse wiederholen musste, hatte ich zwar meine Ruhe. Mein Vater war enttäuscht. ›Du hast mich schwer enttäuscht, du machst nichts aus dir, ich geb’s auf … kannst mich ab jetzt mal.‹ Ich hab ihn gehasst, merk ich erst seit Kurzem, damals war ich sicher, dass er recht hatte. Ich bin eine Enttäuschung.
Im Internat war ich unglücklich, und ich bin auch in der 8. Klasse durchgefallen. Ich musste aber bleiben. Dann
lernte ich ein Mädchen kennen, eine Klasse über mir. Die hat mir geholfen. Sie hat mich gemocht. Ich war das erste Mal verliebt. Dann bekam ich einen neuen Mathelehrer. Er war super. Den vergess ich nie mehr. Er hat gesagt: ›Du hast’s drauf, musst nur einmal an dich glauben.‹ Das war die Wende.
Meinem Sohn gegenüber hab ich noch mal meinen Vater auferstehen lassen. Ich hab mich ihm gegenüber benommen wie mein Vater. Eine ziemlich dumme Geschichte.«
Solche hilfreichen Mitschüler, hier eine Mitschülerin, solche ermutigenden Lehrer gibt es immer wieder. Gott sei Dank. Wenn die Lehrer wüssten, wie viele in die Schieflage geratenen Gefühle sie mit einer so positiven Haltung wieder geradebiegen könnten! Wenn sie wüssten, was eine Sprache der Ermunterung erreichen kann bei einem verunsicherten Schüler! Doch oft wählen sie die moralisierende Sprache der Enttäuschung. Wenn zu einem 16-jährigen Schüler vor versammelter Klasse gesagt wird: »Ich bin enttäuscht von dir«, und die Schulaufgabe mit einer Sechs drauf dem Schüler mit grimmigem Gesichtsausdruck hingeknallt wird, wird’s traurig. Glaubt ein Lehrer wirklich, ein 16-Jähriger wüsste nicht, was eine Sechs bedeutet?
Solche verbalen Bestrafungsaktionen wirken sich verheerend auf die kindliche Psyche aus. Das von den Lehrern intendierte Aufbäumen findet in der Regel nicht statt. Die schlechte Note ist ein Fußtritt. Die verbale Beschämung ein zweiter, der sich ungleich tiefer in das labile Selbstwertgefühl eines Pubertierenden eingräbt. Wie wenig würde es einen Lehrer kosten, Mitgefühl zu zeigen, dem Schüler als Ausgleich zur schlechten Schulaufgabe ein paar aufmunternde Worte zu schenken!
Kein Vater, keine Mutter braucht sich den eigenen Kindern gegenüber für das eigene Leben und Erlebte, oft Erlittene, zu rechtfertigen. Ich sage oft zu betroffenen Eltern: »Sie
brauchen sich für Ihre eigene Biografie nicht zu rechtfertigen, nur kennen sollten Sie sie.« Oft
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