Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
heilen viele aktuelle Wunden in der Eltern-Kind-Beziehung, wenn Eltern von ihren eigenen Wunden erzählen. Doch dafür braucht es Kenntnis von diesen Wunden. Es ist erstaunlich, welch gewaltige Löschkraft das Langzeitgedächtnis bei vielen Eltern gerade da besitzt, wo es um schmerzliche Erinnerungen geht! Die Zeit löscht oder korrigiert viele unangenehme Erfahrungen, im Kopf wohlverstanden, nicht im Gefühl (andernfalls käme es in der nächsten Generation nicht zu den traurigen Wiederholungen!).
Wie oft vergessen Eltern, dass sie nicht nur glückliche, behütete Kinder waren! Wie oft höre ich als Erstes beim Aufzeichnen der elterlichen Lebensgeschichte den Satz: »Ich hatte eine glückliche Kindheit.« 30, 40 Jahre später sitzen da Männer und Frauen, die nicht von ihrer tatsächlichen, sondern der erträumten Kindheit sprechen. Sie lügen nicht, sie haben nur oft ihre Kindheit da und dort etwas umgeschrieben. Weil es sich damit einfacher leben lässt. Für sie, nicht für ihre Kinder. Denn die Eltern bleiben im Bann dessen, was ihnen wehgetan hat. Alles Verdrängte und somit einer verantwortungsbewussten, kontrollierten Handhabung nicht mehr Zugängliche wühlt und wuchert weiter in die nächste Generation hinein. Zielgerichtet und energiegeladen.
In der Mehrgenerationentherapie fällt es einem manchmal wie Schuppen von den Augen, wenn es darum geht, welche Inhalte von einer zur nächsten Generation weitergegeben werden: Es ist das Glück und das Unglück im Elternleben. Es sind die Begabungen , also die Orte, wo das Kind die Eltern leidenschaftlich, gelöst und ganz bei sich erlebt, und es sind die Leiden , welche die Eltern unterschwellig in ihrem Handeln und Agieren den Kindern gegenüber transportieren. Mit den Leidenschaften der Eltern kommen Kinder ganz gut
zurecht, weil diese auch meistens offen sichtbar sind. Mit den Leiden der Eltern weniger, weil sie den Eltern-Kind-Kontakt zwar permanent unterströmen, aber oft nicht klar kommuniziert werden.
Brauchen wir perfekte Eltern? Ganz gewiss nicht. Ich habe versprochen, dass dieses Buch kein »Schuldenbuch« über Eltern wird. Ich werde dieses Versprechen auch einhalten.
Auge in Auge mit dem unvollkommenen Leben
Es hat für Kinder einen großen Vorteil, wenn sie keine perfekten Eltern haben: Sie brauchen auch keine perfekten Kinder zu sein!
Ich staune immer wieder, was meine Therapiekinder mir alles zutrauen. Sie malen, nicht nur am Anfang der Therapie, das Bild einer Therapeutin, die alles kann, alles weiß, alles heilt - wenn sie nur wollte. Aber sie will halt nicht immer, weil sie das Kind nicht mag, sich mit dem Kind langweilt, weil sie das Kind blöd, dumm, unsympathisch findet. Eigentlich ist sie eine Göttin, nur benimmt sie sich mitunter geizig, taub, stumm, sonst würde sie ja gleich alles zum Guten wenden. Sie ist Zauberin, Magierin, weise Frau, geheimnisvolle Heilerin - nur eben, wie gesagt, manchmal spielt sie nicht mit.
Vielleicht nähren solche Bilder manchmal das Ego eines Therapeuten. Doch dann sitzt er bereits in der Falle und vor dem Scheitern. Diese von Kindern entworfenen großartigen Bilder sind Fantasien über Erwachsene, bevorzugt über die ihnen am nächsten stehenden Erwachsenen: ihre Eltern. Und es sind Fantasien, die sich nicht um die Wirklichkeit scheren, sondern von der menschlichsten aller Sehnsüchte erzeugt werden: der Sehnsucht nach Vollkommenheit, nach Unversehrtheit.
Diese Sehnsucht ist das wunderbarste Geschenk, ein unbezahlbares Juwel, das uns Menschen, jedem Einzelnen von uns, innewohnt. Sie macht es uns unmöglich, unser Leben
nur mit Essen, Trinken, Schlafen und Warten darauf, dass dieses Leben zu Ende geht, zu verbringen. Diese Sehnsucht ist verantwortlich dafür, dass wir lieben, planen, schreiben, musizieren, malen, arbeiten. Sie ist verantwortlich für medizinische Fortschritte und technische Entwicklungen aller Art. Überall, wo erforscht, nachgedacht, verbessert wird, wo Utopien entworfen werden, steckt das Streben nach einer vollkommeneren Welt dahinter. Junge Politiker zieht es in die Politik, weil sie im günstigen Fall die Welt etwas verändern und humanisieren möchten. Dass dann schon recht bald der ungünstigste Fall daraus wird, nämlich der Reformwille zugunsten des opportunistischen Machterhalts aufgegeben wird, ist leider unübersehbar beim Blick auf unsere Politiker.
Ich sage manchmal den Eltern meiner Therapiekinder, dass ich gern in die Schulpolitik gegangen wäre, »wenn ich Kraft zum
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