Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
stattgefunden hätte. Oder in Familien, die Leistung über alles gestellt haben: Wer etwas leistet, ist gut - und der wertvollere Mensch. Oder in Familien, die mit strengen christlichen, manchmal zur Bigotterie neigenden Wertemustern strapaziert worden sind.
In der Familie eines meiner Patienten liest sich das, obwohl der Vater einer anderen, »fortschrittlicheren« Generation angehört, folgendermaßen:
»Meine Eltern waren ein eher modernes Paar. Mein Vater hatte immer wieder zwischendurch eine Geliebte. Meine Mutter hat die Augen zugekniffen. Eine Trennung wollte sie nicht. Da hätte sie vieles verloren, vor allem ihr bequemes Leben. Doch wie ich in die Pubertät kam, war plötzlich alles Moderne weg. Ich bin auch weiterhin gefördert worden, schulisch. Sprachaufenthalte und so. Doch wie ich meine erste Freundin hatte, ging es los. ›Bring mir ja keine von dir Geschwängerte daher. Ich schmeiß dich raus.‹ Und meine Mutter sah in jeder Freundin eine kleine Nutte. Einmal, ich war 22, studierte und wohnte noch zu Hause, kamen sie, die eigentlich übers Wochenende wegfahren wollten, nach wenigen Stunden zurück, weil sie sich so gestritten hatten. Ich lag mit meiner Freundin im Bett. Meine Mutter schrie: ›Wie konntest du mein Vertrauen so missbrauchen … liegst mit deinem Flittchen im Bett, widerlich.‹ Ich habe nie wieder eine Freundin nach Hause gebracht. Allerdings habe ich auch mein schlechtes Gewissen nicht weggebracht. Und allmählich habe ich angefangen, meine späteren Freundinnen als Flittchen zu sehen. Die Samen meiner Eltern sind aufgegangen. Ich habe meiner Tochter denselben Stress gemacht wie meine Eltern mir damals. Ich habe meine Frau mit anderen Frauen betrogen, die zwar nie eine ernste Gefahr waren für meine Frau … Aber machen Sie das ihr mal klar, jetzt sieht es ja so aus, dass ich sowohl meine Frau wie meine Tochter verloren habe …« (Er weint beim Vorlesen.)
Aus dem Wunsch, vieles, manchmal »alles« besser machen zu wollen, wird oft nicht das Bessere - sondern die Wiederholung. Väter schwören sich, ihre Kinder nie zu schlagen, weil sie selber unter den schlagenden Eltern gelitten haben - und tun es plötzlich doch. Väter schwören sich, ihren Töchtern gegenüber in einem guten, respektvollen Abstand zu bleiben und nicht Grenzen zu verletzen wie ihre eigenen Mütter, die sie aus Frustration und Enttäuschung irgendwann
dem eigenen Mann vorgezogen haben, wenn auch oft nur mit Blicken und einer ganz besonderen zärtlichen Zuwendung, allerdings nicht selten gekoppelt an eine nie ausgesprochene Drohung: »Werde ja nie wie dein Vater.«
Eine Mutter, die unter der Prüderie ihrer Eltern gelitten hat, findet es völlig »normal«, mit ihrem zehnjährigen Sohn gemeinsam in der Badewanne zu liegen: »Ich bin nicht so verklemmt wie meine Eltern.« Julius, ihr Sohn, hätte es in der Therapie an einem heißen Sommernachmittag völlig normal gefunden, sich vor seiner Therapeutin bis auf die Boxershorts auszuziehen. Ich habe ihm zuerst irritiert zugeschaut, wie er dran war, sich seine Jeans aufzumachen. »Was wird denn das?« - »Es ist so heiß hier drinnen...« (Es war wirklich heiß.) »Stimmt … aber ich find es überhaupt nicht passend, wenn du dich vor mir, einer Frau, ausziehst. Ich würde mich auch nicht vor dir ausziehen, weil das nicht stimmt, wenn ein Junge sich vor einer Frau oder eine Frau sich vor einem Jungen halbnackt auszieht. Du wirst die Hitze im Raum schon aushalten müssen.« Manchmal sind es solche korrigierenden Erfahrungen, die eine andere, gesündere Stellungnahme zu nahen und bedeutenden Familienmitgliedern möglich machen. Julius hat angefangen, sich gegen die Wünsche seiner Mutter nach einer zärtlichen und exklusiven Beziehung abzugrenzen. Und seine Mutter hat sich mit ihrer Unzufriedenheit in der Beziehung zu ihrem Mann auseinandergesetzt, wo sie übrigens die Prüderie ihrer Eltern weitergeführt hat, und aufgehört, sich die Streicheleinheiten, die sie bei ihrem Mann vermisst hat, beim Sohn abzuholen.
Wir sehen: Es gibt keine vollkommen unbeschwerte Kindheit. Sicherlich sind die Kinder über viele Blumenwiesen gehüpft, sicherlich haben sie auf einem grünen Rasen unbeschwert Fußball gespielt. Doch genauso sicher ist ihnen Unrecht geschehen, sind sie ab und zu beleidigt und nicht verstanden worden. Welche Mutter ist immer in der Lage,
sich in ihr Kind einzufühlen? Welcher Vater findet, gestresst von der Arbeit, abends, müde und enttäuscht vom Tag, die
Weitere Kostenlose Bücher