Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
Schulkollegen.
Ihr Aufsuchen meiner Praxis war für mich der Anlass zu diesem Buch. Die Begegnung mit diesen zwei sympathischen jungen Menschen hat in mir Wut, große Nachdenklichkeit und vor allem das Gefühl ausgelöst: So darf es nicht weitergehen an unseren Schulen. Beide behaupteten von sich, nicht kreativ zu sein. Melanie gekränkt: »Was meinen Sie eigentlich immer, wenn Sie von Kreativität sprechen … Sie fragen mich nie Dinge, die ich weiß!«
Der Vorhof der Kreativität ist die Fantasie. Eine erfrischende Eigenart der Fantasie ist ihre Rücksichtslosigkeit. Sie schert sich einen Teufel um soziale und gedankliche Spielregeln. Sie denkt sich dorthin, wo sie gerade unterwegs sein will. Der Fantasie ist vieles egal: die Moral, die sozial vereinbarten Grenzen, das Mögliche, der Sinn, das Machbare. Sie hat keinen
festen Boden, von dem aus sie für alle erkennbar aufbaut und gestaltet und entschieden Form annimmt. Ihr Wesen oder Naturell ist, dass sie plötzlich in unsere Gedanken einbricht, sprunghaft sich ausbreitet, uns emotional aufrührt und - je danach, ob es reine Lust, reine Angst, reine Verunsicherung ist - genauso schnell auch wieder verschwinden kann.
Ein neunjähriger Junge, der plötzlich eine Spielzeugpistole auf mich richtet, antwortet auf meine Frage »Möchtest du mich umbringen?« verlegen lachend: »Es war nur eine Idee...« und lässt die Pistole schnell wieder sinken. Er ist danach ganz aufgeregt. Um ihm die Aufregung wieder etwas zu nehmen, erkläre ich ihm: »Du, wir drehen hier in der Therapie so was wie Filme. In denen ist so ziemlich alles erlaubt, mit einer Ausnahme: Keiner von uns beiden darf den anderen körperlich wirklich verletzen.« Er fragt mich: »Passt du da auf?« - »Ja, da passe ich auf.«
Danach hat der Junge viele Filme mit mir gedreht, die das Thema Gewalt in allen Facetten abhandelten. Am Anfang entwarf er Szenarien, die dem Genre des Horrorfilms entsprachen. Dann bewegten wir uns als Komödiendarsteller, haben viel gelacht, ich wurde nicht mehr gefesselt und erschossen, sondern war Tollpatsch und etwas trottelig, ständig sind mir irgendwelche Missgeschicke unterlaufen. Gegen Ende der Therapie schwenkten wir zu einem anderen Genre: Liebesfilm ohne Happy End, weil es keine Liebesfilme zwischen einem Jungen und einer älteren Frau geben kann. Zuletzt war das Motto »Hänschen klein«: Aufbruch eines Jungen, der die Mutter oder Mutterfigur zurücklässt und sich nicht umdrehen muss, weil er weiß, dass es ihr gut geht.
Der Junge hatte seine inneren Fantasien in die Beziehung hineingetragen und damit betreten, was Donald W. Winnicott den »imaginären Raum« nennt: den Raum, wo Kreativität stattfinden darf. Doch zuerst muss der Vorhof der Kreativität erschlossen werden.
Die zwei Abiturienten waren überzeugt, dass sie weder Fantasie noch Kreativität besitzen. Die Stunden waren zu Beginn denn auch - langweilig. Begegnungen sind immer langweilig, wenn Menschen mit aller Macht ihre Fantasien unterdrücken. Dann beherrscht der Inquisitor die Bühne, manchmal nimmt er dostojewskische Ausmaße an: Das ist verboten zu sagen oder auch nur zu denken, das ist erlaubt zu tun. Es ist förmlich eine »Man-Beziehung«: Man sagt das, was anständig ist. Man sagt das, was sich gehört. Man sagt das, was einen guten Eindruck macht. Man zeigt sich von seiner besten Seite. Man ist höflich. Man ist willig. Man ist logisch. Man ist vernünftig. Man gibt das Gesicht frei, aber garantiert nicht sein Innerstes. Man zeigt, dass man gut erzogen ist. Man unterbricht den anderen nicht. Man reißt sich zusammen. Man weiß, wie man sich zu verhalten hat. Man wahrt den Sicherheitsabstand. Man lügt nicht über Gebühr, bleibt aber auch in gebührendem Abstand zur möglichen Wahrheit.
Man ist die Hauptperson. Glauben Sie, diese Hauptperson sei spannend? Kann mit einer solchen Hauptperson ein lebendiges Handlungsstück entstehen? Gewiss nicht. Diese Stücke öden an, doch man hält sie durch, denn sie tun keinem weh. Es passiert nur nicht viel.
Etwas von diesem Man-Leben haust in vielen unserer Schulen. Wenn Patienten, meine eigenen Kinder oder die Kinder von Freunden aus dem Schulalltag erzählen, habe ich manchmal den Eindruck, als ob zu Beginn der Schule, in jeder Klassenstufe wieder von Neuem, ein unsichtbares Handbuch verteilt werden würde. In diesem Hand- und Begleitbuch durch ein Schülerleben steht drin, was vorkommen sollte, was erwünscht ist bezüglich Verhaltens- und
Weitere Kostenlose Bücher