Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
chaotischen Gefühlsfäden verschwunden. Sie spüren mitunter diffus, dass sie eigentlich nicht das väterliche Interesse an ihrer Entwicklung bekommen, wie sie es erwarten dürften und auch dringend brauchen in einer Zeit, in der Frauen und Töchter sich energisch und zielgerichtet durch die Gegenwart bewegen.
Ein bisschen taub
Eltern hören in der Regel gut. Sie haben sogar ein ganz ausgezeichnetes Gehör, wenn wüste Worte fallen. Da entwickeln wir alle Luchsohren, ob Kind oder Erwachsener. Wenn die Worte jedoch nicht mit Orkanstärke daherbrausen und wie ein abgeschossener Pfeil an der Elternhaut kratzen, sondern wie nebenbei ausgesprochen werden, ohne imaginiertes Ausrufezeichen, dann funktionieren die Ohren oft etwas weniger gut.
Wir sind einige Seiten vorher der Jugendlichen begegnet, die an der Mutter vorbeihuschen wollte, weil die Schule
»nicht besonders war« und sie dazu noch Kummer mit ihrem Freund hatte. Diese Jugendliche hat nicht nebenbei gesprochen - eine Sprechhaltung, die Jugendliche besonders lieben und kultivieren, wenn es um Wichtiges geht -, sondern der Mutter klar und deutlich zu verstehen gegeben, was sie bedrückt. Ihre Mutter hat zwar zugehört, doch sie zeigt nur ein eingeschränktes Hörvermögen - weil sie etwas anderes hören möchte.
Wir hören oft nicht, was uns guttut, sondern was den anderen gerade beschäftigt. Ein natürlicher Sachverhalt, könnte man meinen. Wenn es nicht so wäre, müssten die Menschen gar nicht miteinander sprechen. Freunde, ob Mädchen oder Jungen (doch, doch, auch die beginnen einander persönliche Dinge anzuvertrauen und sprechen nicht nur über Fußball), Frauen, noch etwas verhaltener die Männer, sprechen zueinander über alles, was sie beschäftigt, also Glück, Liebe, Unglück, Krankheit, Sorgen, Erfolge, Ängste. Sie hören einander zu, weil sie gute Freunde und keine schlechten Zuhörer sein wollen. Sie sind unangestrengt aufmerksam, weil sie den anderen begreifen möchten.
Diese natürliche Kommunikationshaltung, die doch so selbstverständlich ist, gerät in der Eltern-Kind-Beziehung oft aus den Fugen - und übrigens auch in der Paarbeziehung. Gerade dort, wo ehrliches und authentisches Reden die unerlässliche Voraussetzung eines harmonischen Familienlebens darstellt, entwickelt sich ein tiefer Graben zwischen Gedachtem und Gesagtem.
Wie viele Jugendliche denken viel und reden wenig! »Wenn ich das der Mama sage, flippt sie doch aus...« Oder: »Wenn der Papa erfährt, dass ich betrunken war, bringt der mich doch um...« Manchmal dramatisieren Jugendliche auch etwas! Doch davon abgesehen: Es muss einen beschäftigen, dass Jugendliche so vieles mit sich allein oder, wenn’s etwas besser läuft, noch mit der besten Freundin oder dem
besten Freund glauben ausmachen zu müssen. Aber war das früher anders? Gehört es nicht zum Erwachsenwerden, dass man die Tür zu seinem Innersten nicht mehr sperrangelweit offen lässt für die Eltern?
Ich bin manchmal entsetzt, was Jugendliche ihren Eltern alles nicht sagen können oder glauben, nicht sagen zu dürfen. Mitunter ist es einfach zu viel. Diese Jugendlichen haben niemanden umgebracht und keinen ausgeraubt. Sie haben »nur« einen unangenehmen ersten Sexualverkehr gehabt, haben vielleicht Drogen genommen, sich das erste Mal geritzt. Das Gewicht auf der Waage geht wöchentlich etwas runter. Sie waschen sich etwas zu häufig. Sie verlassen das Haus, doch kommen nicht so ganz regelmäßig in der Schule an. Sie erleben Freunde, die jedes Wochenende Richtung Vollrausch treiben. Sie kommen nicht so richtig mit dem anderen Geschlecht zurecht oder wechseln den Sexualpartner etwas gar oft. Sie lügen den Eltern vor, dass sie bei Freunden übernachten, die brauchen ja auch irgendwann ein Alibi... Sie treiben sogar ab, ohne dass die Eltern eine Ahnung davon haben, verschulden sich dadurch bei mitunter zwielichtigen Kontaktpersonen. Sie bauen einen Unfall und begehen Fahrerflucht.
Diese Jugendlichen sind nicht delinquent, nicht kriminell, nicht verwahrlost. Sie haben »nur« Mist gebaut, eine neue Erfahrung nicht verkraftet, ein Geschehen nicht einordnen können. Ich wiederhole mich: Sie sind noch nicht so lange auf der Welt. Fast täglich machen sie neue Erfahrungen. Einige davon heben ihr Selbstvertrauen, andere beschädigen es. Wir Erwachsenen sind ihnen an Lebenserfahrung um Längen voraus, doch auch wir bauen manchmal Mist.
Ein junger Mann erzählte mir, dass er dem Vater, allerdings in der typischen
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