Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
immer wieder die Beobachtung, dass Eltern und Kinder tatsächlich eine neue Hörkultur entwickeln, wenn Eltern nicht angegriffen und gekränkt jeden Vorwurf sogleich abstreiten und in den Gegenangriff übergehen. Auch die Kinder agieren so. Eine Pattsituation? Eigentlich nicht. Denn die Eltern müssen den Kindern im Ausprobieren einer neuen Hörkultur vorangehen - nicht umgekehrt. Wenn eine Mutter empört sagt: »Da muss zuerst meine Tochter sich mir gegenüber einen anderen Ton angewöhnen, dann kann ich auch anders antworten...«, liegt ein Irrtum vor. Es ist das Vorrecht der jüngeren Generation, auf Vorbilder zu hoffen, und zwar so lange und so unbeirrbar, bis die jüngere Generation die ältere geworden ist. Es gibt stumme Generationenverträge, die nicht verhandelbar sind . Wenn sich erwachsene Menschen nicht ganz selbstverständlich zu diesem Generationenvertrag bekennen können, ohne großes Aufhebens, sollten sie keine Kinder in die Welt setzen. Dieser stumme Generationenvertrag, dass Eltern zuerst einen bestimmten Entwicklungsschritt machen müssen, bevor sie ihn bei den Kindern einfordern, ist der Boden, auf dem Erziehung gedeiht.
Dieser Generationenvertrag funktioniert natürlich nicht immer reibungslos. Auch Eltern haben das Recht, wegzuhören oder des Gehörten so richtig überdrüssig zu werden. Doch wenn Eltern sich aus den ewig gleichen Wortgefechten zurückziehen und ins langsame und stille Nachdenken übergehen, geben sie den Anstoß zu einem neuen, besseren Sprechen miteinander. Wortgefechte sind, wie das Wort es uns
nahelegt, schnell und hektisch. Ein Worthieb erzeugt den nächsten. Zeit, dem anderen zuzuhören, ist in dieser hitzigen Atmosphäre kaum noch vorhanden. Solche Wortgefechte gehen blitzschnell in Machtkämpfe über und entfernen sich genauso schnell von ihrer eigentlichen Intention: von Gespräch, Begegnung. Hier hilft nur Entschleunigung.
Ein bisschen blind
Eine 18-Jährige hatte ziemlich großen Kummer. Sie bezeichnete ihn einfallsreich als »Brillen-Leben« und hoffte, sie sei nicht mehr so traurig und gekränkt, wenn sie endlich damit aufhören könnte, ihr Leben immer durch die Brille der anderen zu sehen. »In unserer Familie gucken alle ein bisschen so. Die Brille der Gesellschaft, verstehen Sie, die liegt bei uns herum wie bei anderen, sagen wir mal Äpfel oder Karotten. Wie werden wir gesehen? Aha, so sind wir. Eine tolle Familie, so sehen uns die anderen. Also sind wir eine tolle Familie. Kotz. Kotz.«
Wie geht das, die Welt durch die Augen der anderen sehen zu müssen?
Bei Verliebten kommt es zu diesem Phänomen. Der eine möchte den anderen ganz erfassen, ihn ergreifen und begreifen. Dabei passiert etwas Wunderschönes: Der Liebende macht sich die Sichtweise des anderen zu eigen, versenkt sich in dessen emotionale Aufenthaltsorte. Er hört sich Musik an, die nicht seine eigene ist. Er geht mit dem anderen in Filme, die er sich sonst nicht ansehen würde. Er greift nach einem Buch, das normalerweise nicht zu seiner bevorzugten Lektüre gehört. Er zieht sich Klamotten an, welche der Partner für ihn ausgesucht hat. Er wählt Urlaubsorte aus, die bis jetzt nicht auf seiner Lieblingsliste gestanden haben. Er entdeckt
einen neuen Fußballverein, weil der geliebte andere für ihn schwärmt. Er oder sie geht auf den Tennisplatz, zum Eishockey, weil der Geliebte dort gern seine Freizeit verbringt. Er oder sie probiert neue sexuelle Spielarten aus, weil ein neues Glück auch da mutig und erfinderisch macht. Kurz gesagt: Mit einer neuen Liebe finden zwei Menschen zu einer maximalen Offenheit und Lernbegierde. Grenzen sind in diesem Anfangsstadium der Liebe eher bedeutungslos. Ebenso Ängste, Schutzmaßnahmen und andere Vorkehrungen gegen den Selbstverlust. Was diese maximale Offenheit erleichtert, ist der Umstand, dass hier zwei Erwachsene sich gegenseitig öffnen. Ein Liebeskonzert erfüllt die Seelen zweier Menschenkinder. Normalerweise.
In der Familie sieht es etwas anders aus. Auch dort erklingen manchmal Lieder, die Liebe besingen. Mutterliebe. Vaterliebe. Kinderliebe. Wenn das Kind noch ein Baby ist, versuchen die Eltern, ihm seine Wünsche und Bedürfnisse von den Augen abzulesen. Also fast ein Liebesverhältnis, wie es zwischen zwei Erwachsenen seinen Anfang nimmt. Doch schon in der Trotzphase mit dem Kleinkind kühlt die Bereitschaft zur Einfühlung empfindlich ab. Das ist auch gut so: Ein Kopf und ein Köpfchen prallen zusammen, denn aus dem süßen Lockenköpfchen
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