Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
soll ja mal ein eigenständiger Kopf werden. Die Trotzköpfe bauen sich im Kleinkindalter manchmal vor Mutter und Vater so auf, dass diese eine leise Ahnung davon bekommen, was ein Kinds-Kopf erst alles vermag. Manchen Eltern schwant da bereits der Jugendkopf. Wie oft höre ich die Worte: »Noch ist er/sie ja noch nicht in der Pubertät … was erwartet mich dann erst!« Für ihre kleinen Kinder entwerfen die Eltern noch die Zukunft. Bei ihren Jugendlichen müssen sie es sich gefallen lassen, dass sie als Architekten nicht mehr so gefragt sind.
Die Probleme fangen dort an, wo die Eltern Architekten bleiben und ihren Jugendlichen Ideen-Häuser hinstellen,
welche diese nicht beziehen wollen. Das Liebesverhältnis nimmt jetzt oftmals abrupt ein Ende. Die Jugendlichen weigern sich, die Räume zu beziehen, welche die Eltern mit so viel Sachverstand für sie eingerichtet haben. Der eine Vater stellt seinen Sohn in ein humanistisches Gymnasium, weil »dort am ehesten was für die Allgemeinbildung passiert«. Sein Sohn mag aber nicht Vokabeln lernen. Er ist ein Ass in Mathematik. Ein anderer Vater will aus seinem Zwölfjährigen eine Sportskanone machen, die dieser nicht ist und nicht sein will. Eine Mutter plant für ihre Tochter die Karriere als spätere Schauspielerin und schleppt sie von einem Casting zum nächsten. Nebenbei überwacht sie ihr Gewicht. Eine andere Mutter schickt die Tochter in die Schreibwerkstatt für Kinder. »Sie hat schon in der 3. Klasse so gute Aufsätze geschrieben, die Lehrerin hat auch gemeint: unbedingt fördern.«
Was mir immer wieder auffällt oder, genauer, ins Auge sticht, ist die elterliche Qual mit dem modernen Talentförderungsmarkt. Gesangstalente entpuppen sich nicht irgendwann, sondern werden gemacht. Jugendliche, die gut schreiben können, setzen sich als Erwachsene nicht irgendwann durch, sondern werden als zukünftige Schriftsteller oder Journalisten aufgebaut. Ein Mädchen malt nicht einfach, weil es nicht anders kann, sondern wird in die Malschule geschickt.
Eltern liegen auf der Lauer. Sie haben das Zuschauen und Warten verlernt. Sobald sich ein mögliches Talent wie ein kleines Pflänzchen erstmals dem Tageslicht zeigt, wird ein Förderungsprogramm angeworfen.
Dabei sind die Eltern Opfer geworden. Wir alle sind in Gefahr, Opfer einer Freizeitkultur zu werden, die für jedes noch so kleine Talent Förderung anbietet. Wir lassen wenig nur noch keimen, sondern reißen es ans Tageslicht, bevor die Zeit dafür gekommen ist. Heranwachsen in unserer Zeit
scheint eine gesellschaftlich und wirtschaftlich höchst ergiebige Programmierungsschlacht geworden zu sein.
Es gibt inzwischen für alles einen Markt. Kinder und Jugendliche sind gute Kunden geworden. Sie sitzen im Yogakurs, im autogenen Training, tanzen die Bewegungen ihres verehrten Stars nach, besuchen die Schreibwerkstatt, haben ihr Abonnement im Fitnessstudio. In den Ferien werden sie mit Golfkursen für Jugendliche erfreut. Heerscharen von Jugendlichen warten ungeduldig auf ihren 16. Geburtstag - der Startschuss, um am Casting für »Popstars«, »Deutschland sucht den Superstar«, »Germanys next topmodel« teilzunehmen. Jugendliche werden als potenzielle Kunden hofiert wie noch keine Generation zuvor. Sie gehen durch die Drehtüren der Freizeitindustrie ein und aus wie alte Hasen. Mit 16 haben sie schon Hip-Hop, Entspannungsübungen, Judo, Meditation, Töpfern, Taekwondo hinter sich gebracht - um nur das Pensum einiger Jugendlicher zu nennen, die ich aus der Praxis oder dem Umfeld meiner Kinder kenne.
Ich nehme mich nicht aus, wenn es um die Verführbarkeit von uns Eltern geht, alles, was machbar ist und angeboten wird, den eigenen Kindern nahezubringen. Doch ich bin nachdenklich geworden. Dieser Freizeitmarkt kostet Geld. Er unterstützt zudem nicht immer die Selbstentdeckung, er verhindert sie manchmal sogar. Er lädt dazu ein, nicht mehr im eigenen Rhythmus sich und die eigenen Interessen zu entdecken, sondern zu konsumieren. Schnell, aufgeregt, begeistert - um dann, wenn die erste Begeisterung verflogen ist und die Vertiefung folgen würde, sich einen neuen Schauplatz auszusuchen. Das Angebot ist ja da.
Natürlich kann man Kinder und Jugendliche auf interessante Hobbys aufmerksam machen. Doch sollten es Hobbys sein, in welchen sich das Kind wiederfindet - und nicht die Eltern mit einem eigenen, nie verwirklichten und ausgelebten Bedürfnis. Beim Kleinkind müssen die Eltern noch
die Welt für das Kind beobachten
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