Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
Ich vermutete, dass es mit der Sorge zu tun hat, dass die Familie aussterben könnte oder auch damit, dass die Tochter eine bestimmte Möglichkeit des Frauseins gar nicht ausprobieren will und sich dadurch noch mehr von der Mutter entfernt, als es schon der Fall war. Doch es ging um etwas ganz anderes. »Mich hat keiner gefragt, ob ich Kinder haben möchte. Meine Brüder haben einen guten Beruf und Kinder, ich hab nur Kinder, verstehen Sie?« Ich habe sie verstanden, nicht als Therapeutin, sondern als Frau. Manchmal versteht man in so einem Gespräch schlagartig die eigene Geschichte, unsere Frauengeschichte, noch einmal besser. Es sind dann keine Worte mehr nötig, weil eine tiefe, alte Trauer, älter als unsere Frauengeneration, zwei gerade anwesende Frauen miteinander verbindet.
Es gibt noch einen zweiten Mutterneid. Er ist gut verschleiert und ziemlich schambesetzt: der Neid auf die körperliche Schönheit und Anmut der Tochter. Eine Mutter ärgert sich darüber, dass ihre Tochter »jetzt die Periode hat und ich nicht mehr, und Sie glauben es nicht, sie lässt es mich spüren«. Die Tochter würde sie, die Mutter, ständig auf »Problemzonen« am Körper aufmerksam machen. Oder Bemerkungen abschließen mit den Worten: »Aber dafür bist du zu alt«, oder ihr so nebenbei eins reinwürgen mit: »Das sieht bei dir natürlich nicht mehr gut aus, dafür hast du, sorry, einfach nicht mehr den richtigen Körper.«
Mütter sollten sich freuen an der körperlichen Schönheit und Frische ihrer Töchter. Freuen, bitte sehr, nicht sich damit identifizieren! Sonst haben wir schnell wieder eine kleinere oder größere Räubermutter vor uns. Jede Generation hat
ihre eigenen Vorzüge, ihre eigene Schatztruhe, die der jeweils anderen, der Kind- oder Elterngeneration, verschlossen bleibt. Mütter brauchen keine Wespentaille, um attraktiv zu sein. Sie haben ganz andere Pfunde, mit denen sie wuchern können: ihren Erfahrungsschatz, ihre am Leben geprüfte Wahrnehmung, ihr Durchhaltevermögen, unter Umständen eine Körperlichkeit, die jungen Mädchen noch gar nicht erreichbar ist, weil ihr sexuelles Leben erst ein kurzes ist und sie oft noch gar nicht befriedigen kann. Sexualität ist kein technischer Vorgang und schon gar keine mathematische Addition im Sinne von: Zehnmal hab ich schon mit Jungs geschlafen... ich weiß, wie das geht. Eine schöne Sexualität zwischen Mann und Frau wird aus langen, gemeinsamen Lehr- und Wanderjahren heraus geboren. Sie ist nicht automatisch das schönste Spiel zwischen Mann und Frau, doch sie kann dazu werden. Sie braucht Zeit. Und sie hat recht wenig mit Penisgröße, Körbchengröße, Kleidergröße zu tun. Das müssten Mütter wissen. Mädchen können es noch nicht wissen, weil sie noch nicht lange genug auf dieser Welt unterwegs sind.
Es dürfte diese Mädchen gewaltig irritieren, wenn ihre eigenen Mütter glauben, mit einer Brustvergrößerung zu ihrem Frausein vordringen zu können. Was sagt dann eine solche Mutter, wenn ihre Tochter weinend nach Hause kommt, weil ein von ihr gerade so geliebter Junge über ihren kleinen Busen gelästert hat und sie verzweifelt den ersten Angriff auf ihr noch ganz von außen gesteuertes Selbstbild nicht abwehren kann? Wenn sie dem Jungen glaubt? Kann dann eine solche Mutter die Tochter nicht nur äußerlich, sondern aus tiefer Überzeugung heraus in den Arm nehmen und damit trösten, dass dieser Junge doch selber noch nicht weiß, wer er ist als Mann, dass er eigene Unsicherheiten und Ängste einfach auf das Mädchen übertragen hat? Eine über Brustvergrößerung und Fettabsaugen fantasierende Mutter wird in solchen Momenten selber wieder zum weinenden Mädchen,
das dem von der Gesellschaft und Wirtschaft ununterbrochen reproduzierten Bild von Erotik hinterherhechelt. Dieses Bild ist fad und nimmt dem Körper jede Individualität. Der Körper wird zur Massenware.
Auch Väter tun sich schwer mit ihrem Neid auf sportliche Söhne oder deren Waschbrettbauch. Sie ärgern sich insgeheim über die sie oft körperlich überragenden Jungen. Und die gibt es immer zahlreicher. Die Rivalität zwischen Vater und Sohn ist auch ein Thema, das gern den Schleier nimmt und das Tageslicht scheut. Jungen vermuten zwar manchmal kurz und flüchtig, so etwas wie Neid in einer bestimmten väterlichen Reaktionsweise erspäht zu haben, etwa, wenn es um die Kompetenz in Sachen Computer geht. Doch kaum hatten sie diesen Gedanken, ist er schon wieder im Dickicht ihrer vielen, oft
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