Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
dafür, im eigenen Leben anwesend und heimisch sein zu wollen.
Diese Anwesenheit im eigenen Leben erschöpft sich allerdings nicht im sorgsamen Umgang mit den Primärtugenden.
Eigentlich ein Leben
Was eigentlich hat sich gelohnt?
Was geschah, was blieb ungeschehn
und was hat man eingesehn?
Bleibt denn ein Leben verschont?
Fragen, an niemand gerichtet
als an sich selber allein.
Was eigentlich sieht man ein?
Auf wieviel hat man verzichtet?
Auf viel oder wenig: wer will
das eigentlich noch wissen? -
Aber wie hingerissen
konnte es sein und wie still?
Karl Krolow (1996)
Der erste Teil dieses wundervollen Gedichts nimmt uns zu den Primärtugenden und Pflichten mit, wie sie auf uns warten im Erwachsenenleben. Ein stilles und unspektakuläres Nachdenken über Erledigtes und Versäumtes öffnet den Gedankenraum. Fragen nach dem, was besser hätte gemacht werden können, gehören zum leise vorgeführten Reflektieren. Der in sich und sein Leben versunkene Selbstbeobachter stellt sich all die Fragen, wie sie nun einmal zu uns Menschen gehören: Habe ich auch wirklich getan, was in meiner Macht stand? Wo habe ich möglicherweise gepatzt? Hätte es da oder dort mehr sein können? Habe ich über oder unter meinen persönlichen Möglichkeiten gelebt? Wir Leser begleiten das lyrische Ich, das hier spricht, stimmen ihm zu, ja, ja, ganz vernünftige Fragen - doch dann steht plötzlich das kleine Wörtchen »hingerissen« da.
Wer Menschen schon einmal beim Sterben begleitet hat, hat vielleicht auch die Erfahrung machen können, dass diejenigen alten Menschen leichter sterben, die diesem kleinen Wörtchen auf dem Weg durch ihr Leben begegnet sind. Für die anderen wird der Abschied vom Leben manchmal sehr lang und quälend. Eine Sterbende hatte mir vor vielen Jahren gesagt: »Etwas fehlt noch, ich weiß nicht, was … Mehr, es hätte mehr sein müssen.« Ich wusste auch nicht, was in ihrem Fall gefehlt hatte. Doch dieses »Es hätte mehr sein müssen« hat mich in Abständen wiederholt und noch längere Zeit beschäftigt. Es war mit einem nackten, großen Ernst ausgesprochen worden.
Wenn wir hingerissen sind, sind wir da - und das Leben ist es mit uns. Dieser Zustand öffnet unsere Poren wie kaum etwas anderes. Hingerissenheit ist die heftigste und entschlossenste Zuwendung zum Leben, die vorstellbar ist. Hingerissen sein lässt auf eine tiefe Verzückung schließen. Es sind die kurzen Augenblicke, die davon erzählen, dass das Leben kein Irrtum, keine Laune der Natur ist, sondern - lohnenswert. Wenn ich hingerissen bin, ob von einem Menschen oder einer Sache, haucht mich ein Zauber an, der schwer fassbar ist, doch Wirkung zeigt. Ein hinreißender Mann, eine hinreißende Frau, ein hinreißendes Buch, ein hinreißender Film werfen uns aus den gewohnten Denkbahnen heraus und machen uns willig zur Veränderung. Sie machen schöpferisch und inspirieren uns, neue Wege zu gehen. Plötzlich sind Langeweile, der gewohnte, alte Trott weit weg und das Leben kommt wieder wie ein Versprechen daher.
Karl Krolow scheint um solche kostbaren Augenblicke zu wissen. Wenn ein Mensch oder eine Sache es schaffen, uns für einen Moment oder länger hinzureißen, kehren wir in einen Kreislauf von Lebendigkeit zurück, der diesen Namen verdient. Wir sind wieder heiße Beteiligte, keine lauwarmen Zuschauer mehr. Krolows Frage ist nicht Rhetorik, sondern
zeugt von viel und tiefer Menschenkenntnis. Man kann seine Frage nach dem Hingerissensein nur ernst nehmen. Mindestens so ernst wie die Primärtugenden, für die Familienmenschen sich freiwillig, manchmal auch etwas zähneknirschend, entschlossen haben.
Auch Familienmütter und -väter brauchen von Krolows Frage nicht die Finger zu lassen. Ein Familienleben muss nicht in Bahnen von entweder - oder ablaufen. Hinreißendes gehört nicht nur in das Leben von begeisterungsfähigen und künstlerisch veranlagten Individuen, sondern darf auch im normalen Leben vorkommen.
Wenn ich Eltern vorschlage, ihre Paarbeziehung nicht länger in einer guten Vergangenheit ruhen zu lassen, sondern wieder in der Gegenwart aufzufrischen, kommt oft sofort: »Ja, und was ist mit den Kindern? Wir haben keine Oma, keinen Opa, der auf sie aufpassen würde.« Oder: »Wenn ich die Kinder ins Bett gebracht habe, das dauert, sage ich Ihnen, dann will ich nur noch meine Ruhe haben und nicht noch mit meinem Mann was unternehmen, er ist ja auch immer so müde«.
Eltern geben viel Geld aus für Nachhilfe.
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